Kleine Erzählung, große Gefühle, fiebrige Medien

Die Erzählung über die Euro und den Fußball entbehrt der Fantasie, aber nicht einer gewissen instrumentellen Hysterie.

Wieder einmal zeigt sich am doppelten Phänomen des Kleingeistnationalismus rund um das ÖFB-Team und alle anderen Mannschaften sowie der Nachrichtenwelle über die Brutalitäten von betrunkenen (Engländern), ultranationalistischen (Russen) und rechtsradikalen (Deutschen) Idioten die Unerzählbarkeit des Fußballs durch die Medien. Der Medienwissenschaftler und Historiker Peter Plener hat diese These in einen lapidaren Satz gefasst. Sie ist die bisher originellste theoretische Skizze zu den Ereignissen der vergangenen Tage.

Der Grund dieser Frage ist die Erkenntnis, dass wir auf die Erzählung des Fußballs durch die Medien angewiesen sind. Ohne dieses Narrativ könnten wir an der Europameisterschaft nicht teilnehmen, wir wären, wie der Wiener sagt, nirgends. Hunderte Millionen Zuseher nehmen an der Euro via Medien teil – oder dem, was in den Medien als Euro kolportiert wird. Ist die Wirksamkeit oder die schlichte Existenz dieser Fußballerzählung also bezweifel- oder sogar negierbar? Was wird hier erzählt, wenn nicht der Fußball?

Ängste und Sehnsüchte

Ein Querverweis: Der Fußball von der Schülerliga bis zur Europameisterschaft verarbeitet wie ein Märchen Ängste und Sehnsüchte. Der in Wien geborene Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (1903–1990) hat in den 1970er-Jahren in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ die in ihnen enthaltene Brutalität als eine Chance für Kinder gedeutet, innere Konflikte in der Fantasie auszuleben und zu lösen.

Die Euro hat auch den russischen, englischen, deutschen Gewalttätern eine Chance zu einer Art von sinnvollem Handeln nach ihren absurden Wahnideen verschafft. Allerdings alles andere als „bloß“ in der Fantasie.

Der angeschwollene Bocksgesang in den Medien hat offenbar nur auf diesen zündenden Funken gewartet. Seither quellen Zeitungen und Flatscreens von Bürgerkriegsberichten aus den Austragungsorten der Euro über. Sie beziehen ihre Faszination von der simplen Einteilung der Welt in Wir und Die, wie sie von Rechtspopulisten wie H.-C. Strache bis zu ultranationalistischen russischen Schlägern propagiert wird.

Der Sport ist in seiner Struktur darauf angelegt, Chaos zu evozieren. Er zerstört die im Alltag, in Beruf, Familie, Religion, Militär und Herkunft eingeübte Einteilung und fügt im selben Augenblick mit seinem Regelkorpus eine neue Ordnung zusammen. Vor allem der dialogisch angelegte, mit nationalen, ethnischen und kommerziellen Klischees aufgeladene Fußball liefert jede Menge an gebrauchsfertiger seelischer Erregung.

Der Sport erstellt seine Hierarchie durch den Wettbewerb prinzipiell Gleichberechtigter. Wer besser ist, wer gewinnt, der verdient mehr, wird bekannter und beliebter. Der Sport und sein Subsystem Fußball können mit einigem Recht als die vielleicht einzige weltweit anerkannte Leistungsgesellschaft beschrieben werden. Der freie Wettbewerb einer Europameisterschaft basiert also auf dem Ordnungsprinzip der Leistung.

Von ihren Fußballmannschaften vertreten, kommen die „besten“ Nationen zusammen, um den „Besten der Besten“ aus ihren Reihen zu ermitteln. Es braucht nicht viel Fantasie, um die Analogie zum Vereinigten Europa und den Wettbewerb der Nationen zu ziehen. Renationalisierung und Entnationalisierung verlaufen parallel, die großen Geldgeber aus anderen Erdteilen (Asien, Amerika) ergänzen das integrierende Gesamtbild zu einer globalen Inszenierung.

Abbildung der Oberfläche

Kaum eine einzelne politische Maßnahme trägt in Zeiten, da die Zahl der Arbeitslosen steigt, die Konjunktur nicht anspringt und die Politik sich von internationalen Großkonzernen einen Teil ihrer Gestaltungskraft aus der Hand nehmen lässt, so zur nationalen Einigung bei wie Erfolge der Nationalmannschaft. In diese symbolische Politik schrieb sich auch der scheidende Bundespräsident Heinz Fischer ein, als er die geschneuzte und gekampelte ÖFB-Truppe im Namen des ganzen Landes, das „wie ein Mann“ hinter ihr stehen werde, verabschiedete.

Es fällt schwer, hier nicht an Bettelheim und seine Deutung der Märchen zu denken, die „die Wahrheit unserer Fantasie, nicht die der normalen Kausalität“ zum Ausdruck brächten. Wenn die „grausamen Geschichten“ der Märchen von den Schwierigkeiten der Lebensbewältigung erzählen, schildert die sprachlose Sprache des Fußballs vielleicht die Schwierigkeit, unsere Welt auszuhalten.

Eines der Probleme, und da wären wir wieder bei Peter Plener, ist bloß, dass der Fußball als medialer Content keine Rücksicht mehr auf die in ihm verborgenen Inhalte mehr nimmt und sich zunehmend mit der Abbildung der Oberfläche und seiner pseudopsychologischen Deutung zufriedengibt. Die Kontraste in diesem Bild einer von der umgebenden Welt abgekapselten und doch als sinnstiftend für sie reklamierten Parallelwelt nehmen zu.

Eigene Liga für Superreiche?

Einige Ligen (England, Spanien, Deutschland) haben sich dank ihrer finanziellen Potenz vom Rest Europas abgehoben, der kapitalstarke Fußball in Europa importiert aus aller Welt die talentiertesten Kinder – in vielen Fällen über das seit Jahrhunderten eingeübte (post-)kolonialistische Wegenetz.

Den Gipfel des Zynismus bildet eine Gruppe von superreichen Klubs um Bayern München, Chelsea und Manchester United, die eine abgeschottete, „Super League“ genannte Variante der Champions League etablieren wollen, um die sportlichen (sprich: kommerziellen) Risken zu minimieren.

Wen wundert es da, wenn immer mehr Fans sich um die egalitäre Wunderwelt des Fußballs betrogen fühlen? Ein Fantasiewerk, das sich nur allzu willig fremden Interessen andient und den Kontakt zur Umgebung verliert, darf sich nicht wirklich über unangenehme Reaktionen wundern: von Machthabern, die den Sport (Fußball) gnadenlos für ihre Machtfantasien in Anspruch nehmen.

Zuletzt waren die Medien voll von Berichten über Verdacht auf Korruption im Fall von Olympischen Spielen (Stimmenkauf für Japan 2020, Dopingbetrug in Sotschi 2014) und Fifa-Weltmeisterschaften (Russland 2018, Katar 2022, Deutschland 2006). Oder von Menschen, die glauben, ihre brutalen Fantasien im Fußball ausleben zu müssen. Ein Phänomen der Unreife, zweifellos, doch die Medienerzählung belohnt sie mit dem einzigen Erfolgskriterium, das ihr zur Verfügung steht: Aufmerksamkeit.

Ein Maserati für den Sportler

Die reine Leistungsgesellschaft des Sports mündet in eine brutalisierte Erfolgsgesellschaft. Selbst die interne Leistungshierarchie ist ja fragwürdig, indem kapitalstarke Klubs sich auf Kosten Schwächerer die besten Kicker kaufen oder, wie im Fall der Super League, Kleinere gleich ganz ausschließen wollen.

Dem erfolgreichen Sportler bleiben immerhin Applaus und der neue Ferrari (Porsche, Maserati), selbst wenn sein Arbeitgeber zerbröselt und absteigt. Vielleicht erzählen die Medien ja doch die richtige Geschichte vom Fußball – und was wir Kinder von ihm erwarten, ist nur eine unreife Fantasie.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Johann Skocek

(geb. 1953), studierte Sport und Geschichte, arbeitete für „Die Presse“ und „Der Standard“ und ist seit 2004 freiberuflicher Journalist. Er schrieb etliche Bücher über die Geschichte und Sportgeschichte Österreichs, zuletzt „Mister Austria“, eine Biografie über den Auschwitz-Überlebenden Norbert Lopper. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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