Wladimir Putins vorgetäuschte Reformen

Der frühere Finanzminister, Alexej Kudrin, wirkt wieder im Kreml. Er soll mithelfen, Putins Image als „starker Mann und ehrgeiziger Reformer“ zu festigen. Der Westen sollte auf diese alte Leier aber nicht hereinfallen.

Als der russische Performance-Künstler Pjotr Pawlenski im November 2015 den Haupteingang der Moskauer Lubjanka in Brand setzte – des Hauptquartiers des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB wie auch des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes KGB –, beschuldigte ihn der Staat, das „kulturelle Erbe“ Russlands zu zerstören. Offenbar zählen brutale Verhöre weltberühmter Künstler – vom Dichter Ossip Mandelstam bis hin zu Theaterdirektor Wsewolod Meyerhold – zu einem kulturellen Vermächtnis, das unter stärkster staatlicher Protektion zu stehen hat.

In Wirklichkeit ist es natürlich so, dass die Lubjanka ein Instrument der Zerstörung des russischen Kulturerbes war. Doch unter Präsident Wladimir Putin – selbst ein ehemaliger KGB-Offizier – zeigt die russische Regierung kein Interesse an der Wirklichkeit. Man bevorzugt Orwellschen Doppelsprech in noch perverserer Ausprägung als zu Zeiten der Sowjetunion – ein Beleg für die Propagandafertigkeiten des heutigen Regimes – und produziert damit erschreckenden Doppeldenk in den Köpfen russischer Bürger.

Ein Mister der Fassade

Unter Stalin wurden echte Errungenschaften – etwa die Industrialisierung und der Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg – in der ideologischen Schlacht gegen den Kapitalismus aufgebauscht, während Mandelstam, Meyerhold und Millionen andere durch die Hände der Geheimpolizei umkamen.

Der zwar populäre, aber schale Sieg, den man mit der Annexion der Krim erreichte, verblasst im Vergleich mit den Großtaten seiner Vorgänger, weswegen Putin gezwungen ist, von bloßer Ablenkung zu eklatanter Tatsachenverdrehung überzugehen und zu behaupten, der Westen behindere absichtlich die Erfolge Russlands.

Putins Erfolg, die russische Öffentlichkeit von allem zu überzeugen – von seiner Begabung für den Eishockeysport bis hin zur Existenz anti-russischer Verschwörungen im Westen – zeugt von seinem wahren Talent: Wie jeder gute KGB-Agent ist auch Putin ein Meister der Fassade. Offenkundigstes Beispiel: Da der Kreml alle wichtigen Nachrichtenquellen kontrolliert, bekommen die Russen nur jene Version der Ereignisse zu hören, die Putin für geeignet hält – ungeachtet davon, ob es sich dabei um die Revolution in der Ukraine, die Proteste von Oppositionellen in Moskau oder die Militäraktion in Syrien handelt.

Selbst Entscheidungen, die Putins Zielen scheinbar entgegenstehen – beispielweise das Internet im Wesentlichen unzensiert zu belassen – werden zum eigenen Vorteil verdreht. In typischem Doppelsprech gelang es Putin in hohem Maße, die im Internet kursierende Kritik und Diskussion an seiner Politik als Beleg dafür zu werten, dass er eben ein Reformer sei.

Die Rückkehr Alexej Kudrins

Putins jüngster Schachzug zur Aufrechterhaltung einer Reform-freundlichen Fassade bestand darin, Alexej Kudrin in den Kreml zurückzuholen – einen ehemaligen Finanzminister, der für seine liberalen Ansichten, seine Unterstützung einer Modernisierung der Wirtschaft und seine gelegentliche Kritik am Präsidenten bekannt ist. Kudrin die Verantwortung für das russische Zentrum für Strategische Studien zu übertragen, unterstreicht Putins Anspruch, die Führerschaft über die so bitter nötigen wirtschaftlichen Modernisierungsbestrebungen in Russland zu übernehmen. Freilich ist die russische Wirtschaft von Putins eigener Regierung und mit Hilfe des militärisch-industriellen Komplexes abgewürgt worden.

Angesichts dieser krassen Widersprüche drängt sich die Frage auf, warum Putins Fassade einer aufgeklärten und effektiven Führerschaft nicht bröckelt. Die Erklärung liefert eine Hinweistafel an der zu Putins Landsitz führenden Rubljowka-Straße, auf der zu lesen steht: „Russland ist eine Kraft für den Frieden, die letzte Hoffnung Gottes auf Erden.“

Gesponsert von einem Privatunternehmen, um damit den Kreml gnädig zu stimmen, unterstreicht diese Tafel Putins Bündnis mit der ultrakonservativen Russisch-Orthodoxen Kirche. Diese Allianz ermöglicht ihm, religiösen Glauben, Patriotismus und blindes Vertrauen in den Staat zu verschmelzen. Dies und die Willfährigkeit privater Unternehmen bilden das Fundament der Führungskraft Putins. Nun versucht Putin, dieselbe Taktik auf den Rest der Welt anzuwenden.

Guter Bulle, böser Bulle

Die Rückkehr Kudrins hat mehr damit zu tun, den Westen von der Aufhebung der im Gefolge der Annexion der Krim verhängten Sanktionen zu überzeugen, als damit, die Unterstützung durch die russische Öffentlichkeit zu stärken, die weiterhin mit überwältigender Mehrheit hinter Putins Regierung steht. Westliche Spitzenpolitiker – angefangen mit jenen Entscheidungsträgern in Europa, die ohnehin schon fordern, die Sanktionen zu lockern – werden aber erkennen müssen, dass Kudrins Rückkehr lediglich dazu dient, den Status quo des Kremls zu erhalten.

Kudrin dient als Fassadenstütze, und seine Rolle besteht darin, Putins Image als „starker Mann und ehrgeiziger Reformer“ zu festigen. Er ist der „gute Bulle“ gegenüber Putins „bösem Bullen“, und er soll den Westen davon überzeugen, dass man Russland vertrauen kann, wenn es Respekt verlangt. Der Westen darf nur nicht auf diese alte Leier hereinfallen.

Unerquickliche Lebensrealität

In Russland selbst wird es schwieriger, Putins Fassade zum Einsturz zu bringen. Freilich ist die Lebensrealität im Land unerquicklich. Jenseits einer zusammenbrechenden Wirtschaft waren Putins Kritiker Zielscheibe von Verhaftungen, Inhaftierungen und Morden – wie in den Fällen der Journalistin Anna Politkowskaja und des Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Und da sind noch die immer häufigeren Übergriffe auf gewöhnliche Bürger – Hauseinbrüche, Sachbeschädigungen und sogar Gefängnisstrafen – wenn diese gegen Putin, den Kreml oder gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche gerichtete Karikaturen oder Blogs veröffentlichen.

Doch in einem wahrhaften Meisterstück im Stile des KGB lagert Putin sowohl die Repression als auch den Liberalismus aus und hält sich damit aus allem heraus. Die Repression überlässt er den russischen Pendants der Rotgardisten des Vorsitzenden Mao – jenen ideologischen Freiwilligen, die in den 1960er-Jahren genehmigte Übergriffe auf freidenkende Lehrer, Wissenschaftler, Künstler und Studenten verübten. Im Bereich des Liberalismus kommen Personen wie Kudrin ins Spiel.

Am Ende ändert sich gar nichts. Angesichts der herannahenden Präsidentenwahl 2018 muss Putins Fassade als starker Mann und Reformer, den Russland braucht, intakt bleiben.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier. Copyright: Project Syndicate, 2016.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN


Nina L. Chruschtschowa
(*1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und dissertierte an der Universität Princeton. Sie ist die Enkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie stellvertretende Dekanin der New School und Senior Fellow am World Policy Institute, an dem sie das Russland-Projekt leitet. Jüngstes Buch: „The Lost Khrushchev: Journey into the Gulag of the Russian Mind“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2016)

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