Und was wird aus uns Mitteleuropäern?

Der Schwerpunkt des europäischen Integrationsprozesses bewegt sich nach Osten, das politische und wirtschaftliche Gewicht Mitteleuropas wird gerade aufgewertet. Aber wird das auch zur Kenntnis genommen?

Für uns hier in Mitteleuropa ist die Grundfrage immer dieselbe. Was wird aus uns? Ist das, was geschieht, gut oder schlecht für uns Ungarn, für die Mitteleuropäer, die Europäer? Und wenn es schlecht ist, wie können wir den Schaden minimieren, wie können wir teilweise Vorteile erlangen – und vor allem: Wie sollten wir versuchen, die Zukunft zu gestalten, damit ähnlich nachteilige Ereignisse verhindert werden?

Was die Vorhersagen angeht, lohnt es, sich auf einige sehr allgemeine Fakten zu beschränken. Der Schwerpunkt des europäischen Integrationsprozesses bewegt sich nach Osten, das geopolitische und wirtschaftliche Gewicht Mitteleuropas wird entscheidend aufgewertet. Dieser Prozess ist freilich schon früher angelaufen: deutsche Einheit, Verlagerung der Hauptstadt nach Berlin, Europas Wiedervereinigung, schnelleres Wirtschaftswachstum in Mitteleuropa, sicherheitspolitische Entwicklungen an den östlichen Rändern. Aber jetzt bekommt er neuen Aufschwung.

Deutsche Wende nach Osten

Die Schlüsselfrage ist – immer in unterschiedlicher Form, aber doch – Deutschland, die „Conditio Germaniae“. Nach dem Austritt der Briten muss Deutschland sich entschiedener als bisher nach Mitteleuropa wenden. Dies umso mehr, als die bisherige Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen und die neuen Faktoren der Sicherheit und Geopolitik dies verlangen.

2014 musste die sichtbare Verletzung der territorialen Integrität durch eine Großmacht eintreten, um uns die Bedeutung des Territoriums wieder bewusst werden zu lassen („die Geschichte ist zurückgekehrt“). 2015 stellte sich dann heraus, dass unsere Grenzen auch auf andere Weise verletzt werden können. Also ist die geo- und sicherheitspolitische Bedeutung des „Osteuropa“ genannten Mitteleuropas gewachsen.

Die deutsche Wende nach Osten kann nicht plötzlich und schnell erfolgen. Denn gerade in der gegenwärtigen Situation ist die bilaterale deutsch-französische Beziehung und Zusammenarbeit besonders wichtig. Die eigentliche Frage liegt nicht in der Geschwindigkeit, sondern im Wie: Auf welche Weise wird Berlin die Wende nach Mitteleuropa umsetzen?

Betrachtet Berlin die Mitteleuropäer als gleichrangige Partner, die einen vollwertigen Platz am Tisch haben, an dem grundlegende Entscheidungen getroffen werden? Als Partner, die ein wertvolles europäisches kulturelles und zivilisatorisches Erbe tragen, das unabdingbar ist für die europäische Identität und Wertordnung und den darauf aufzubauenden Integrationsprozess? Oder sieht es die Mitteleuropäer vielmehr als kleine Brüder, gewohnheitsmäßige, gehorsame Vollstrecker von Entscheidungen, die ohne sie getroffen wurden?

In der Mitte, nicht am Rand

Dazu braucht es mehr als die Verlagerung der Hauptstadt nach Berlin. Es braucht Verständnis, Empathie, Toleranz, Achtung und gründlichere Kenntnisse. Und wir müssen viel deutlicher klarmachen, dass wir weder geografisch noch sonst irgendwie am Rand Europas stehen. Wir sind in der Mitte Europas. Wir haben darum gekämpft, haben es nicht umsonst bekommen und werden es nicht aufgeben.

Das Wachstum unseres geopolitischen und wirtschaftlichen Gewichts bringt nicht nur Möglichkeiten mit sich, sondern auch Verantwortung. Niemand sollte hoffen, dass Ungarn aus der EU irgendwann austreten will, dass die Unterstützung des Austritts in der Öffentlichkeit ernsthafte Ausmaße annehmen kann. Es ist allgemein bekannt, dass die Unterstützung der Integration heute in Polen und Ungarn am größten ist. Auch all jene sollten keine Hoffnungen hegen, denen zufolge die Ursachen für alle Sorgen und Probleme der Union und für das Versanden des Integrationsprozesses in der Osterweiterung 2004 liegen, also in Europas Wiedervereinigung – eine Wiedervereinigung, auf die Generationen hofften und die durch die von den mitteleuropäischen Ländern hervorgerufene und bedingungslos unterstützte deutsche Wiedervereinigung erst ermöglicht wurde.

Der stärkere Durchbruch des mitteleuropäischen Faktors ist nur ein Element des Aufbaus eines künftigen Europa. Heute fordern beinahe alle ein Reform der Union. Doch hinter dem Reformanspruch stehen Bestrebungen in vollkommen entgegengesetzte Richtungen, und darin liegt die größte Herausforderung. Das ist nicht neu, aber der Austritt der Briten gibt jenen Kräften Auftrieb, die den Integrationsprozess im kleinen Kreis, in entscheidend föderaler Struktur fortsetzen beziehungsweise neu beginnen wollen.

Entgegengesetzte Positionen

Eigenartigerweise tauchen diese Gedanken gerade in Mitgliedstaaten auf, die den EU-Grundlagenvertrag per Volksabstimmung abgelehnt haben und in denen wesentliche politische Kräfte die Möglichkeit eines Austritts in Erwägung ziehen. Beachtenswert ist, dass es sich dabei nicht um neue Mitglieder handelt, sondern um Gründerstaaten. Andere meinen, Reformen seien nötig, um die Befugnisse der EU zu beschränken und die Rolle der Mitgliedstaaten zu stärken, indem ein Teil der bereits übertragenen Kompetenzbereiche zurückverlagert wird. Nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch innerhalb einzelner Staaten werden vollkommen entgegengesetzte Positionen vertreten.

All das kann die Ungewissheit und Beklemmung nicht verringern, sondern lässt sie zunehmen und sorgt für das gehäufte Auftreten von Unglücksverheißungen über den Zerfall der europäischen Integration. Nun will jeder Europa retten, aber auf diametral entgegengesetzte Weise. Es kann sein, ja, es ist sogar sicher, dass dies nicht der Moment ist, eine umfassende Umgestaltung in Angriff zu nehmen.

Gelassenheit und Geduld

Vor allem Gelassenheit und Geduld sind nun vonnöten. Wir müssen aufeinander hören und gemeinsam nachdenken. Im Ergebnis kann eine Lösung erarbeitet werden, die geduldig, schrittweise, flexibler als derzeit und unter Berücksichtigung aller Aspekte und Interessen eine auf die wichtigsten Fragen konzentrierte Integrationsstruktur ergibt.

Die größere Flexibilität könnte zur Herausbildung einer differenzierteren Struktur führen. Aber am wichtigsten ist, dass zwischen den auf unterschiedlichen Gebieten abweichend erscheinenden Integrationsniveaus immer die Freiheit und tatsächliche Möglichkeit des Übergangs gewährleistet bleibt. Geduld, Toleranz, Flexibilität, Selektivität und – wenn es sein muss – größere Unterscheidbarkeit. Wir müssen das Wesentliche nicht nur bewahren, sondern weiterbauen. Wir und unsere Nachkommen.

Neu zu denken und wiederaufzubauen ist notwendig und unumgänglich, aber zerstören dürfen wir nicht. Vor allem wir Mitteleuropäer können uns das nicht erlauben und werden es auch nicht tun. Es ist ein historisches Glück, dass der Präsident des Europäischen Rates gerade ein Pole ist. Vielleicht liegt ein weiteres Signal darin, dass seit dem 1. Juli die Slowakei turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



János Martonyi
(* 1944 in Kolozsvár/Cluj in Rumänien) studierte Rechtswissenschaften und arbeitete als Rechtsanwalt. 1988 trat er der ungarischen KP bei, 2003 dem konservativen Ungarischen Bürgerbund (Fidesz). Er diente unter Viktor Orbán von 1998 bis 2002 und dann wieder von 2010 bis 2014 als ungarischer Außenminister. [ APA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2016)

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