Verfassungsrecht ist so etwas wie ein Evangelium

Die Verfassung kann nicht beliebig der Rechtsentwicklung angepasst werden.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in seinem veröffentlichten Erkenntnis sehr deutlich gemacht, welche Gründe ihn zur Aufhebung der Stichwahl bewogen haben: Es waren die schweren und vor allem systemimmanenten „Unzukömmlichkeiten“ bei der Vollziehung der Wahlrechtsvorschriften in einzelnen Bezirkswahlbehörden, die im Rahmen der Zeugenvernehmungen festgestellt wurden.

Ganz besonders betraf dies auch die mittels Briefwahl abgegebenen Stimmen im Ausmaß von 77.926 – dies bei einem Stimmenabstand zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer von lediglich 30.863.

Gerade aus diesem Faktum könnte der Schluss gezogen werden, dass bei „richtiger“ Zählung, also bei Einhaltung der Wahlvorschriften, Alexander Van der Bellen nicht Wahlsieger geworden wäre. Kommt dann noch die vorzeitige Bekanntgabe von Stimmenauszählungen dazu, wird verständlich, dass der Ablauf der Wahl im Kontext mit der Nichteinhaltung der im Erkenntnis des VfGH genannten gesetzlichen Vorschriften ein Bild ergibt, das die Wahl und das erzielte Ergebnis deutlich infrage stellt.

Daher halte ich, ohne selbst ein Verfassungsexperte zu sein, die Anwendung der Gesetzesstellen im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) und im Verfassungsgerichtshofgesetz für richtig, und zwar gerade auch im demokratiepolitischen Sinn, um den von Michael Amon in seinem Gastkommentar (8. 7.) zu Recht angeführten „Dolchstoßlegenden“ a priori entgegenwirken zu können.

„Lebensfremd“, „unhistorisch“?

Die von Amon als „lebensfremd“ und „unhistorisch“ kritisierte Anwendung der Leitentscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus den 1920er-Jahren ist im Hinblick darauf, dass der konkrete Nachweis einer Wahlmanipulation praktisch nicht möglich ist, in einem Rechtsstaat durchaus legitim und statthaft. Das Argument der Weiterentwicklung der Rechtsprechung ist zwar grundsätzlich richtig, sie wird im Zivil- und Strafrecht sowohl vom Obersten Gerichtshof als auch vom VfGH bewusst dynamisch gehandhabt (siehe die Entscheidung zur Frage der gleichgeschlechtlichen Elternschaft bei künstlicher Befruchtung). Für den Bereich des Verfassungsrechts ist sie jedoch nicht anwendbar. Die Verfassung ist im Vergleich zu einfachen Gesetzen so etwas wie ein Evangelium und daher einer beliebigen Anpassung durch die Rechtsprechung nicht zugänglich.

Bewusste Schlampereien?

Zu dem Argument, dass blaue Wahlbeisitzer bewusst geschlampt haben könnten, um einen Weg zur Wahlanfechtung zu öffnen: Wenn eine Partei versuchen sollte, demokratische Rechte zu ihrem Vorteil zu missbrauchen, ist es Aufgabe und Pflicht der demokratisch gewählten Politiker und der Medien, hier Klarheit zu schaffen solche Absichten offenzulegen und gegebenenfalls zu verhindern.

Es geht jetzt auch darum, den Bürgern vor Augen zu führen, dass die Ausübung des Stimmrechts bei der nächsten Stichwahl von großer demokratiepolitischer Bedeutung ist, um den von Amon zu Recht befürchteten Verschwörungstheorien keine neue Nahrung zu geben.

Wenn Amon zum Abschluss pointiert Kurt Tucholsky und die Frage der Verständlichkeit von Urteilen bemüht: Als jahrzehntelanger Leser höchstgerichtlicher Urteile des Obersten Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs hatte ich nicht selten Probleme, diese Urteile auch tatsächlich zu verstehen. Dennoch glaube ich nicht, dass diese Urteile im Ergebnis nur deshalb falsch waren, nur weil ich – und viele meiner damaligen Anwaltskollegen – sie nicht wirklich verstanden haben.

Dr. Johannes Sääf (*1951) ist Hochschuldozent für Europarecht und Staateninsolvenz sowie Unternehmensberater in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2016)

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