Ignorierte nationale Minderheiten: Krux der EU

Hätte die EU eine vernünftige Politik zum Schutz der alten Minderheiten verfolgt, wären die Fliehkräfte zwischen Hebriden und Po-Ebene vermutlich nicht so stark angewachsen – und erhielten keinen Auftrieb durch den Brexit.

Seit sich Engländer und Waliser wider Schotten und Nordiren mehrheitlich für die Verabschiedung des Vereinigten Königreichs aus der EU entschieden, sind quer über den Kontinent Gründe und Folgen auf geradezu inflationäre Weise erörtert worden. Auffällig ist, dass dabei ein unterschätztes Thema gänzlich außer Acht geriet – nämlich Lage, Dasein und Bedürfnisse einer Gruppe von Minderheiten. Dies korreliert mit dem Stellenwert, den diese in EUropa einnehmen.

Es ist eine Krux, dass sich die EU nie auf eine eigentlich wünschenswerte, weil notwendige Minderheitenpolitik eingelassen hat. Gemeint sind damit nicht neue, sondern alte, autochthone, ethnische, nationale Minderheiten. Es gibt nicht wenige, deren stete Erfolglosigkeit im Ringen um (mehr) selbstbestimmte Eigenständigkeit Sprengstoff birgt.

Maßlose Enttäuschung

Solange das Manko aufrecht ist, dass die kleinen Völker respektive kleinen Nationen, als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen verstehen, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lang werden sie ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Maßlos enttäuscht sind sie indes von der EU, von der sie sich in gewisser Weise Erlösung erhoff(t)en.

Just im Gefolge des Brexit dürften sie sich daher neuerlich Gehör verschaffen. Die Schotten erstreben die Unabhängigkeit und den Verbleib in der EU. Mit einem weiteren Referendum ist zu rechnen. Und für die Nordiren, zumindest für den katholischen Bevölkerungsteil, scheint die Gelegenheit günstig, sich mit der Republik Irland zu vereinen.

Eine derartige Entwicklung jenseits des Kanals hätte Signalwirkung. Denn was für Schotten und Nordiren gilt, gilt umso mehr für Katalanen und Basken. Nicht die Katalanen, die sich in – von Madrid nicht anerkannten – Referenden bisher am weitesten vorwagten, sondern die Basken waren die Ersten, die – über Jahre hin mit blutigen Anschlägen – die Trennung von Spanien und den eigenen Staat zu erreichen hofften.

Davon wäre naturgemäß auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque, bekennen sich gut 100.000 Menschen zum baskischen Volk. Viele Bretonen betrachten die Unabhängigkeitsbewegungen mit Sympathie. Wenngleich das Verlangen nach Abspaltung von Frankreich weniger ausgeprägt ist, so hört man doch nicht so selten, das schottische Vorpreschen werde auch anderen Volksgruppen in Europa – nicht zuletzt den Bretonen selbst – mehr Gehör und politische Eigenständigkeit verschaffen. Immerhin und wohl nicht von ungefähr sind die aufmüpfigen Bretonen bei der Reduktion der (festländischen) Regionen von 22 auf 13 ungeschoren davongekommen.

Furcht vor Domino-Effekt

Dasselbe gilt für Korsika, das nicht als Region, sondern als Gebietskörperschaft gilt, die einer festländischen Verwaltungseinheit – etwa Provence-Alpes-Côte d'Azur – hätte zugeschlagen werden können. Die Nationalpartei PNC (Partitu di a Nazione Corsa) tritt nicht unbedingt für die Unabhängigkeit Korsikas ein, was das Ziel bisweilen bombender Extremisten war/ist, verlangt aber mehr Selbstständigkeit anstatt politischer Steuerung durch Paris. In Belgien hat der Konflikt zwischen holländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen seit zehn Jahren deutlich zugenommen. Von den Flamen, die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der ärmeren Wallonie wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Zentralstaats aus.

Die deutschsprachige Gemeinschaft auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abgetretenen Gebiet Eupen-Malmedy, ein von 80.000 Menschen bewohntes Gebilde mit politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und Regierung, gehört zwar territorial zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.

Außerhalb des Landes werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden Italiens unterschätzt. Die politische Klasse in Rom muss hingegen im Blick auf die möglichen Folgen des Brexit und angesichts wachsender regionaler Erosionserscheinungen eine Art Domino-Effekt befürchten. Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, gewannen letzthin besonders im Veneto an Boden. In einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, an dem sich seinerzeit 2,36 Millionen Wahlberechtigte (73 Prozent der Wählerschaft der Region) beteiligten, antworteten 89 Prozent auf die Frage „Willst du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“.

Gefährdete Privilegien

In unmittelbarer Nachbarschaft ergriff die Lega Nord eine ähnliche Initiative. Die Schlacht um die Unabhängigkeit sei wieder aktuell, bekundete Lega-Chef Matteo Salvini am Tag nach dem Brexit-Entscheid und fügte hinzu: „Es lebe der Mut der freien Briten. Herz, Verstand und Stolz besiegen die Lügen, Drohungen und Erpressungen. Danke UK, jetzt kommen wir dran.“ Die von Salvinis Stellvertreter, Roberto Maroni, geführte Mitte-rechts-Koalition im Regionalparlament verlangt die Umwandlung der Lombardei in eine Region mit Sonderautonomie.

Diesen Status hat die Autonome Region Trentino-Alto Adige inne, in welcher die Provinzen Trient und Bozen-Südtirol seit Ende des Zweiten Weltkriegs (zwangs-)vereint sind. Doch just diese Privilegien sollen gemäß der (Staats- und Verfassungs-)Reform des italienischen Regierungschefs, Matteo Renzi, beseitigt werden, womit die bestehenden (Sonder-)Autonomien zwangsläufig gekappt würden. Ob die Schutzklausel, die Renzi den Südtirolern zugesichert hat, das Papier wert ist, auf dem sie – nicht eindeutig auslegbar – fixiert ist, muss sich erst noch erweisen.

„Los von“-Initiativen in Mode

Faktum ist, dass Rom die autonomen Befugnisse der Provinz Bozen-Südtirol seit 1992 – dem Ende des Südtirol-Konflikts im völkerrechtlichen Sinne – mittels gesamtstaatlicher Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis und spürbaren Finanzmittelentzugs sukzessive entwertete. Angesichts dessen nimmt es nicht wunder, dass die Befürworter des „Los von Rom“ immer mehr Zulauf erhalten.

Und diese Leute verbünden sich, wie unlängst der in Bruneck veranstaltete Unabhängigkeitstag erwies, mit den politischen Kräften jener Bewegungen, die das „Los von London“, „Los von Madrid“, „Los von Paris“, „Los von Brüssel“ . . . für sich beanspruchen sowie Gewährung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verlangen.

Hätte sich die EU beizeiten auf eine vernünftige Politik zum Schutz der alten Minderheiten eingelassen und einen verlässlichen kollektiven Rechtsrahmen zum Schutz der kleinen Nationen und Volksgruppen geschaffen, wären die Fliehkräfte zwischen Hebriden und Po-Ebene mutmaßlich nicht so stark angewachsen. Und sie erhielten nicht zusätzlichen Auftrieb durch den britischen Exit.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt
(* 1952 in Haingrund/Hessen) studierte Germanistik, Volkskunde, Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Freiburg und Gießen. Er war 18 Jahre lang Österreich-Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Seit einigen Jahren lehrt er an österreichischen und ungarischen Hochschulen. [ Pauty]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2016)

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