Der Terrorismus kann uns immer und überall treffen

Terror als eine Strategie des gezielten Tabubruchs, um Angst zu schüren.

Terrorismus lebt von seiner enormen Schockwirkung. Die Amokfahrt von Nizza ist dabei Symptom eines Paradigmenwechsels, der sich bereits seit den Pariser Novemberanschlägen abzeichnet: Schrankenlose Gewalt ist zum Selbstzweck mutiert. Eine Arithmetik möglichst hoher Opferzahlen ist mit dem sinistren Anspruch verbunden, dadurch eine maximale Publizität zu entfalten.

Den Jihadisten, die sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS) nahestehend fühlen, ist das Ethos des ökonomischen Gewalteinsatzes abhandengekommen. Lange war für Terrororganisationen das „rationale“ Prinzip vorherrschend, Gewalt nur in einem solchen Ausmaß zur Anwendung zu bringen, wie dies für das Erreichen eines, wenngleich verwerflichen Zwecks notwendig erschien. Das hat sich inzwischen fundamental geändert.

Fast hat es den Anschein, als würden die islamistischen Attentäter wetteifern, was die Anzahl der Opfer und ihre Brutalität betrifft. Dass jemand einen Lkw zu einer Planierraupe umfunktioniert und wahllos Menschen, vorwiegend Kinder, niedermäht, ist Indiz für diese Entwicklung und die perfide Ruchlosigkeit der Jihadisten.

Achillesferse der Terrorabwehr

Der IS-Propagandist al-Adnani hat bereits 2014 dazu aufgerufen, Anschläge gegen „Ungläubige“ in deren eigenem Umfeld mit sogar einfachsten Mitteln zu verüben: „Zerschmettert seinen Kopf mit einem Stein, schlachtet ihn mit einem Messer, überfahrt ihn mit einem Auto, werft ihn von einem hohen Platz nach unten, erstickt oder vergiftet ihn.“

Für uns bedeutet dies, dass Terror wie in Paris, Brüssel oder Nizza praktisch immer und überall passieren kann. Derartige niederträchtige Mordanschläge sind von den Sicherheitsbehörden kaum zu antizipieren und schon gar nicht zu verhindern. Sie sind die Achillesferse der Terrorismusabwehr. Der taktische Gesinnungswandel der Islamisten entspricht einer operativen Hinwendung zu sogenannten Lowtech-Szenarien. Es bedarf nicht mehr einer komplexen Logistik, um einen Terroranschlag mit großer Resonanz zur Ausführung zu bringen.

Verheerende Signalwirkung

Hinzu kommt ein aktueller Trend zu von Netzwerken entkoppelten Einzeltätern („einsame Wölfe“), die sich selbst radikalisieren und eigeninitiativ weiche Ziele, wie zuletzt den beschaulichen Badeort an der Côte d'Azur, angreifen. Nicht bloß die Auswahl eines Touristenortes als Anschlagsziel, sondern auch jene des französischen Nationalfeiertags als Zeitpunkt für die Amokfahrt haben durchaus auch eine symbolische Bedeutung: Der „dekadente“ Westen soll dort getroffen werden, wo er seinem freiheitlichen, lockeren Lebensstil am ehesten frönt: beim Feiern im Urlaub. Die Signalwirkung ist verheerend: Die islamistische Terrorgefahr wirkt nun omnipräsent.

Die sich wiederholenden Terroranschläge auf Ziele in Frankreich sind zudem Ausdruck einer gezielten Ermattungsstrategie. Man möchte den Feind zermürben, und man möchte den Handlungsdruck auf die Regierung weiter erhöhen (Ausnahmezustandsregime), um die französische Gesellschaft zu spalten. Dies scheint graduell bereits zu gelingen.

Bleibt letztlich nur ein schwacher Trost: Die Wahrscheinlichkeit, selbst Terroropfer zu werden, ist für den Einzelnen, wenngleich nicht vollends auszuschließen, doch verschwindend gering. Nicht zuletzt ist das subjektive Bedrohungsempfinden stets größer als die reale Gefahr.

All dies ändert jedoch nichts daran, dass uns der jihadistische Terror in Europa leider noch länger begleiten wird.

Dr. Nicolas Stockhammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Polemologie und Rechtsethik an der Uni Wien.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2016)

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