Olympia und Katharsis im „Land der Zukunft“

Brasilien, Veranstalterland der Olympischen Spiele, durchlebt gerade eine schwere Krise. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.

Wenige Wochen vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro geht das fünftgrößte Land der Welt, Brasilien, durch die schwerste politische Krise seit dem Ende der Militärdiktatur. Diese wurde ausgelöst durch schwerwiegende Korruptionsskandale, die fast ausnahmslos die gesamte Staatsspitze und ihre Institutionen erfasst haben. Aber nicht nur. Von der Korruption gebeutelt werden regelmäßig alle Ebenen der Politik und der Verwaltung – für Parteispenden, aber auch zur persönlichen Bereicherung.

Verstärkt wird diese Entwicklung durch eine nunmehr seit einigen Jahren anhaltende Wirtschaftskrise, die sich durch negative Wachstumsraten, einen starken Anstieg der Inflation, Kapitalabfluss und Rückgang von Investitionen aus dem Ausland bemerkbar macht. Die hohe Kriminalitätsrate und vermehrte Demonstrationen tun ein Übriges. Sorgen darüber, ob Brasilien es schaffen wird, gute und sichere Olympische Sommerspiele abzuhalten, machen sich breit.

Während Brasilien noch vor wenigen Jahren das stolze B im Namen der Gruppe der aufstrebenden Schwellenländer (BRICS = Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) beisteuerte, schweben heute dunkle Wolken über dem B, zugegebenermaßen aber auch über dem Rest dieser Buchstabengruppe.

Immer ein Land der Zukunft?

Stefan Zweig bezeichnete in seinem berühmten, gleichnamigen Buch Brasilien als das „Land der Zukunft“. In den folgenden Jahrzehnten haben kritische Stimmen immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass Brasilien wohl immer ein Land der Zukunft bleiben werde. Es werde ihm wegen seiner Schwächen, vor allem wegen der Korruption, nicht gelingen, seine eigene große Zukunft zu verwirklichen. Diese Stimmungslage änderte sich unter den Präsidenten Fernando Henrique Cardoso und Luiz Inácio Lula da Silva.

Cardoso führte orthodoxe, marktwirtschaftliche Reformen ein, die Lula da Silva trotz einer anderen politischen Weltanschauung im Wesentlichen fortsetzte. Diese Kontinuität tat dem Land gut, gepaart mit dem Ausbau der Bolsa Familia, einer Form der gezielten Familienbeihilfe, die für Millionen armer Menschen den Unterschied zwischen Hunger und Nichthunger ausmachte.

Diese Maßnahme spornte zudem den Binnenkonsum an. Die hohen Weltmarktpreise für Rohstoffe und die enorme Nachfrage, insbesondere aus China, halfen Brasilien, zu einem Exportweltmeister zu werden.

Gleichzeitig gelang es, die industrielle Basis nicht zuletzt mithilfe von Auslandsinvestitionen auszuweiten. Schließlich hatte Brasilien Vorzeigeunternehmen – wie den achtgrößten Erdölkonzern der Welt, Petrobras – der auch auf dem Gebiet der alternativen Energie im Spitzenfeld lag. Ferner gibt es den konkurrenzfähigen Flugzeughersteller Embraer, die landwirtschaftliche Forschungsfirma Embrapa, die zahlreiche Pflanzen, darunter Soja, tropentauglich machte, das Institut Butantan, das ein Vorzeigeunternehmen auf dem Gebiet Impfstoffe darstellt, bis hin zu Unternehmen im Bereich der Nanotechnologie.

Sorglose und ideologisch bestimmte Industriepolitik, teure Prestigeprojekte, Inkaufnahme von neuen Budgetdefiziten, erstarkter Merkantilismus in den Außenwirtschaftsbeziehungen, steigende Inflationsraten und insbesondere die überbordende Korruption haben die erwähnten Errungenschaften zuletzt wieder infrage gestellt.

Dieser schwere wirtschaftliche Einbruch hat schließlich auch dazu geführt, dass die gewaltigen Mängel deutlich wurden: fehlende Investitionen in die Infrastruktur, ins Bildungs- und Gesundheitswesen und vor allem die alles durchdringende Korruption, die im Falle des Petrobras-Skandals dieses Weltunternehmen Summen in Milliardenhöhe gekostet und es gehörig ins Wanken gebracht hat.

Rio de Janeiro ist pleite

Kommunen wie Rio de Janeiro sind mittlerweile pleite. So erklären sich auch die jüngsten Streiks von Polizei und Feuerwehr in Rio. Als Draufgabe wurde das Land noch vom Zika-Virus heimgesucht.

Und dennoch: Für die Optimisten unter den Freunden Brasiliens gibt es Hoffnung. Brasilien wird seine großartige Zukunft letztlich doch erreichen. Was wir derzeit in dem krisengeschüttelten Land erleben, ist eine Katharsis.

Das Impeachment-Verfahren gegen Staatspräsidentin Dilma Rousseff, die offene Kritik am derzeitigen Kabinett unter Interimspräsident Michel Temer, Rücktritte und Absetzungen hochrangiger Politiker aller Parteien, insbesondere der PT (der Arbeiterpartei Lulas und Rousseffs), die schließlich die Korruption ins Systemische perfektioniert hat, sind Teil dieses Reinigungsprozesses. Große Bedeutung erlangt das wachsende Selbstvertrauen von korruptionsbekämpfenden Staatsanwälten und Richtern sowie verlässlicher Kräfte in der Bundespolizei Polícia Federal. Sie führen jenen Kampf gegen die Korruption, an dessen Ende ein besseres Brasilien stehen sollte.

Ein fleißiges, kreatives Volk

Dabei hilft, dass sich Brasilien im Gegensatz zu vielen Ländern eine weitgehend unabhängige und gelegentlich auch wagemutige Presse mit einer Vielzahl von Publikationen erhalten hat.

Von den über 6,2 Milliarden Reais (fast I,8 Milliarden Euro), die aus dem Unternehmen Petrobras durch Korruption abgezweigt worden sind, konnte der Erdölkonzern immerhin etwa ein Viertel zurückerhalten. Die Regierung Temer hat ein großes Maßnahmenpaket zur Förderung des Wirtschaftswachstums beschlossen, was erstmals wieder zu einer zarten Revidierung der Wachstumsprognosen nach oben geführt hat.

Der größte Gewinn für die Zukunft des Landes geht von den circa 200 Millionen Brasilianern selbst aus. Wie schon Stefan Zweig feststellte, zeichnen sie sich durch einen bewundernswerten Humanismus, Toleranz und Weltoffenheit aus, wie dies selten in einem Land zu finden ist.

Brasilianer sind – vielleicht entgegen dem Nimbus von Karneval, Caipirinha und Samba – ein hart arbeitendes und fleißiges Volk. Vor allem sind die Brasilianer ein äußerst kreatives Volk, das überdies nicht zimperlich ist und sich daher aus dem aktuellen Wellental mit Energie wieder herausarbeiten wird. Dieser Prozess wird bis zu den Olympischen Spielen nicht beendet sein. Aber ein neuer Anfang scheint gerade gemacht zu werden, der zumindest Hoffnung für eine helle Zukunft Brasiliens gibt.

Stillhaltepakt mit den Bossen

Eine Vorhersage: Die Spiele werden trotz aller Unkenrufe und besorgten Kommentaren gut verlaufen. Mit den Vorbereitungen wird man (fast) fertig werden. Die Brasilianer lieben ihre Sportveranstaltungen, selbst wenn sie gelegentlich gegen allzu teure Stadien demonstrieren.

Traditionell ruht sogar das Verbrechertum während solcher Ereignisse, die das ganze Land in die Sportbegeisterung reißen. Rio scheint es gelungen zu sein, ein Stillhalteabkommen mit den Favelabossen für die Dauer der Spiele zu erreichen. Und mit den verbleibenden Taschendieben wird man schon fertig werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Mag. Werner Brandstetter
ist Absolvent der Wirtschaftsuniversität und der Diplomatischen Akademie. Er ist Karrierediplomat und war von 2004 bis 2008 Botschafter in Brasilien und von 2008 bis 2012 in Kanada. Derzeit leitet er die Sicherheitsabteilung im Außenamt. Der Beitrag gibt ausschließlich seine eigenen Ansichten wieder. [ Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2016)

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