Kern bei Merkel: Brexit muss im Mittelpunkt stehen

Warum sich die EU-Politiker auf das Wesentliche – die Ausgestaltung der Brexit-Verhandlungen – konzentrieren sollen.

Morgen, Samstag, trifft Bundeskanzler Christian Kern zusammen mit seinen Amtskollegen aus Slowenien, Bulgarien und Kroatien die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Schloss Meseberg nördlich von Berlin. Offiziell soll dort der nächste Europäische Rat vorbesprochen werden.

Die Staats- und Regierungschefs der EU-27 (also in Abwesenheit des Vereinigten Königreichs) treffen sich nämlich bereits am 16. September in der slowakischen Hauptstadt Bratislava, um die Zukunft der Europäischen Union zu besprechen. (Die Slowakei hat bis zum Jahresende die EU-Ratspräsidentschaft inne.) Es soll dabei um die Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit, die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, aber auch um die künftige Innovationsfähigkeit der EU gehen.

Hinter diesen Schlagwörtern verbirgt sich ein Thema: Wie soll es weitergehen mit der Europäischen Union, nachdem auf den britischen Inseln eine Mehrheit für den Austritt ihres Landes votiert hat? Durch die Übernahme des EU-Ratsvorsitzes mit 1. Juli 2018 kommt Österreich in den kommenden Monaten und Jahren eine Schlüsselposition innerhalb der EU zu. Bundeskanzler Kern sollte daher bereits am Samstag einige Dinge aus österreichischer Sicht klarstellen:

Nach dem für viele überraschenden Ja zum Brexit vor bereits wieder zwei Monaten scheint sich der eigentliche Startschuss für den Beginn der Austrittsverhandlungen immer weiter nach hinten zu verschieben.

War ursprünglich von „nach dem Sommer“ die Rede und etwas später von „zum Jahresende“, wird mittlerweile darüber spekuliert, dass die neue britische Premierministerin, Theresa May, den Antrag gemäß Artikel 50 EU-Vertrag gar erst im September 2017 stellen könnte. Damit würde die vorgesehene zweijährige Verhandlungsfrist extrem verspätet in Gang gesetzt. Dies hätte jedoch unangenehme Folgen für das Funktionieren der EU.


Wahlen:
Im Frühjahr 2019 wird nämlich wieder das Europaparlament gewählt. Sollte das Vereinigte Königreich bis dahin jedoch noch immer EU-Mitglied sein, würde es über die Zusammensetzung des Parlaments und in der Folge natürlich auch über den künftigen EU-Kommissionspräsidenten mitbestimmen. Eigentlich ein politisches Unding, durch den verspäteten Beginn der Brexit-Verhandlungen wird das jedoch immer realistischer.


Budget:
Überhaupt scheint die Jahresmitte 2019 der magische Zeitpunkt, zu dem der Austritt vollzogen sein sollte. Denn spätestens dann muss die EU beginnen, ihren neuen mehrjährigen Finanzrahmen zu verhandeln. Neben den üblichen jährlichen Budgets gibt es nämlich noch eine Art Mehrjahresplan, in den sich die Jahresausgaben einpassen müssen. Der aktuelle läuft für den Zeitraum 2014–2020. Sein Folgeplan muss am 1. Jänner 2021 in Kraft sein. Um das zu erreichen, muss spätestens Mitte 2019 mit den neuen Verhandlungen begonnen werden.

Wäre England da noch EU-Mitglied, würde es über das EU-Budget bis Ende der 2020er-Jahre mitentscheiden. Die EU wäre gezwungen, zwei Alternativfinanzrahmen zu beschließen: einen mit britischer Mitgliedschaft, einen ohne. Ein verhandlungstechnisches Unding. Darüber hinaus ist die Ausgestaltung der künftigen Beziehungen Londons zur EU auch noch entscheidend für die Dotierung etwa von Forschungsprogrammen. Staaten wie Norwegen oder auch Israel nehmen etwa daran teil, zahlen dafür jedoch auch massiv ins Gemeinschaftsbudget ein. England muss sich daher schleunigst klar werden, ob es das auch will.


Offene Zahlungen:
Und um das Ganze noch ein wenig schwieriger zu gestalten, kennt das EU-Haushaltrecht auch noch zwei verschiedene Grundgrößen: Mittel für Verpflichtungen und Mittel für Zahlungen. Verpflichtungen stehen für die, die innerhalb einer Haushaltsperiode eingegangen werden können. Die Zahlungen dagegen sind die Summe der tatsächlich in dieser Periode zu begleichenden Rechnungen.

Während die Verpflichtungen in der Regel eher zu Beginn eines Finanzmehrjahresplans eingegangen werden, erfolgen die Zahlungen dann zeitlich verzögert über die kommenden Jahre hinweg, wenn das Geld tatsächlich überwiesen wird. Auf diese Weise hat die Europäische Union aktuell über 200 Milliarden Euro an Verpflichtungserklärungen abgegeben, die erst in den nächsten Jahren auch tatsächlich beglichen werden müssen.

Den EU-Anteil Englands zugrundelegend, schuldet die britische Regierung daher den Brüsseler Finanztöpfen etwa 25 Milliarden Euro. Bevor sich die britischen Inseln aus Europa verabschieden, muss sichergestellt werden, dass dieses Vermächtnis auch verlässlich beglichen wird.


EU-Beamte: Jüngsten Berichten zufolge sind die langfristigen Kosten der Pensionen für EU-Beamte auf beachtliche 64 Milliarden Euro angestiegen. Es sollte daher im ureigensten Interesse der verbleibenden EU-27 sein, dass das Vereinigte Königreich auch in diesem Bereich seine langfristigen Verpflichtungen auch nach dem Austritt verlässlich erfüllen wird. Um die Gesamtbelastung beträchtlich zu reduzieren wäre es auch nötig, den Status der derzeitigen aus England stammenden EU-Beamten schleunigst zu klären.

Korrekt wäre, dass sie gemeinsam mit ihrem Heimatland die EU-Verwaltung verlassen. Damit würde man einerseits die Zahl der EU-Mitarbeiter mit einem Schlag um ein paar tausend reduzieren. Gleichzeitig entfällt wohl auch die Geschäftsgrundlage für eine spätere EU-Pension. Die bisher geleisteten Zahlungen sind einfach ins nationale britische Sozialversicherungssystem rückzuüberweisen. Solche Regeln bestehen bereits heute. Man müsste sie nur anwenden.

Natürlich würde man mit solch klaren Worten und Forderungen so manchen EU-Briten verärgern. Andererseits ist den Bürgern in Europa auch schwer zu erklären, warum zwar England die EU verlässt, seine Beamten aber weiterhin in den Genuss Brüsseler Sozialleistungen kommen sollten.


Österreichische Interessen:
Und schließlich sollte Bundeskanzler Kern am Samstag in Berlin auch gleich weitere österreichische Interessen und Ansprüche wahren. Als in der Europäischen Union verbleibender Nettozahler sollte Wien etwa versuchen, die frei werdenden Führungspositionen in Brüssel mit geeigneten Kandidaten zu besetzen.

Österreich ist aktuell, was Generaldirektoren und Direktoren in der EU-Kommission angeht, unterrepräsentiert. Die bisher mit Briten besetzen Leitungsfunktionen könnten daher – auch im Sinn eines funktionierenden Binnenpluralismus innerhalb der Brüsseler Dienststellen – bevorzugt mit Österreichern und Österreicherinnen besetzt werden. Und dass sowohl für die EU-Arzneimittelagentur als auch die EU-Bankenaufsichtsbehörde in Österreich Platz wäre, könnte man eigentlich auch so nebenbei erwähnen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Stefan Brocza
, geboren 1967 in Linz, hat in Wien, St. Gallen und Harvard studiert. Ab den frühen 1990er-Jahren Berufstätigkeit im EU-Kontext (u. a. EU-Koordinierung Wien; Ratssekretariat Brüssel). Seither umfangreiche Beratungs- und Lehrtätigkeit im In- und Ausland, aktuell an der Universität Salzburg. [ privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2016)

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