Das Europa des Winston Churchill

Der britische Ausnahmepolitiker skizzierte vor 70 Jahren ein Europa, das von Regionen zusammengehalten wird.

Über die Person Winston Churchill kann man durchaus streiten, unbestreitbar aber sind sein politisches Gespür und sein spätes, aber eindeutiges Bekenntnis zu einem vereinten Europa.

Anfang nächster Woche jährt sich seine berühmte Europa-Rede zum siebzigsten Mal. Am 19. September 1946, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, hielt Churchill seine vielbeachtete Rede an der Universität Zürich. Er rief zum Aufbau eines vereinten Europas auf. Unter anderem sagte er: „Wir müssen die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu zusammenfassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte.“

Dieses berühmte Zitat wird zwar regelmäßig wiedergegeben, selten aber auf den genauen Wortlaut geachtet. Churchill spricht nicht von einer losen Vereinigung von Nationalstaaten, wie sie die EU heute ist. Er bezieht sich auf regionale Strukturen und daher die Regionen Europas als Einheiten – im Sinne eines Vereinten Europas der Regionen. Churchill erkannte, dass die auf Vorurteilen und Feindbildern aufgebauten ethnischen Nationalstaaten einer friedlichen und kooperativen Entwicklung Europas im Wege stehen.

Die Rede hielt Churchill nicht zufällig in der Schweiz. Er und der Begründer der Paneuropa-Bewegung, Graf Richard Coudenhove-Kalergi, erachteten den seit Jahrhunderten erfolgreich zusammenhaltenden Vielvölkerstaat Schweiz stets als Vorbild für ein zukünftiges vereintes Europa.

Erfolgsstory Schweiz

Die Basis der Erfolgsstory Schweiz ist ihre politische Gliederung. Im Gegensatz zur EU, Belgien oder den bereits zerfallenen Vielvölkerstaaten Jugoslawien und der Tschechoslowakei, ist die Eidgenossenschaft nicht ethnisch-national, sondern regional gegliedert. Die politischen Einheiten sind weitgehend autonome Kleinregionen (Kantone), viele von ihnen mehrsprachig und multikonfessionell. Diese basisdemokratische politische Struktur förderte die Entstehung stark ausgeprägter regionaler und überregionaler Identitäten, die alle Volks- und Religionsgruppen gleichermaßen einschliessen.

Aufwertung der Regionen

Dadurch werden gröbere ethnische und konfessionelle Konflikte vermieden. Die Mischung aus politisch-gesellschaftlicher Stabilität und ausgeprägter lokaler und regionaler Selbstverwaltung ermöglichten zudem den Aufbau bedürfnisgerechter wirtschaftlicher Strukturen, die in anderen Teilen Europas meist fehlen.

In diesem Sinne braucht auch Europa mittelfristig eine regionale Gliederung. Ein solches Europa der Regionen wird zwar gern in Festtagsreden gefordert, existiert aber nicht auf institutioneller Ebene. Das muss sich ändern. Eine ohnehin längst überfällige Reform der EU sollte daher nicht nur die Entrümpelung der EU-Bürokratie und eine Stärkung von EU-Kompetenzen in Bereichen wie der Währungspolitik, der Migration, dem Grenzschutz, der Verteidigung und der Außenpolitik beinhalten. Es sollten vor allem auch die Kompetenzen von Gemeinden und Regionen auf subsidiärer Grundlage nach Schweizer Vorbild europaweit festgelegt werden.

Insbesondere in zentralistischen Nationalstaaten wie Frankreich, Polen, Rumänien, Tschechien, Ungarn, der Slowakei, Slowenien, Kroatien und Griechenland, aber auch in semi-föderalen Staaten wie Deutschland oder Österreich würde eine solche Aufwertung der Regionen und Kommunen nicht nur den Nationalismus schwächen, sondern neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Impulse geben. Es wäre die einzig richtige Antwort auf den Brexit und Anti-EU-Populismus der heutigen Zeit.

Peter Jósika ist ein in der Schweiz lebender österreichischer Manager, Autor, Historiker und Politikwissenschaftler.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2016)

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