Christian Kern als der "neue Schuldenkanzler"?

Die inkonsequente Haltung der Politik zu Staatsschulden ist auch ein Spiegel der ambivalenten öffentlichen Meinung.

Angestoßen von Bundeskanzler Christian Kern gingen zuletzt wieder die innenpolitischen Wogen hoch. Nachdem Kern in seinem „FAZ“-Beitrag einem Ende der EU-Sparpolitik und einer starken Erhöhung der öffentlichen Investitionen das Wort geredet hatte, rückte ihn die ÖVP prompt in die Nähe des „Schuldenkanzlers“ Bruno Kreisky.

Von derlei politischer Kampfrhetorik wird die Debatte dominiert, anstatt das sehr komplexe Thema auf sachlicher Ebene zu diskutieren. Zweifelhaft fundierte normative Forderungen haben dabei zumeist Vorrang gegenüber sachlicher Argumentation.

Ein Paradebeispiel: Die Begründung der von konservativen Politikern forcierten „schwarzen Null“ mit der finanziellen Belastung für künftige Generationen. Oft gipfelt dies in der Rechnung, jedes Kind würde bei gegenwärtigem Schuldenstand mit durchschnittlich 30.000 bis 40.000 Euro Schulden auf die Welt kommen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt viele Gründe, wodurch Staatsschulden eine Belastung für künftige Generationen sein können. Die obige Rechnung aber ist fundamental falsch, weil sie übersieht, dass Staatsanleihen Vermögenstitel darstellen, die ebenfalls vererbt werden, und zwar in exakt gleicher Höhe wie die betreffenden Schulden.

Blick in die Geschichtsbücher

Anstatt auf das Argument einzugehen, begnügen sich die Sozialdemokraten jedoch üblicherweise mit alibihaften Forderungen nach öffentlichen Investitionen.

Tatsächlich werden konkrete fiskalpolitische Entscheidungen wohl meistens hinter verschlossenen Türen getroffen, während man in der Öffentlichkeit ein politisches Theaterstück inszeniert. Auch der Blick in die Geschichtsbücher zeigt nämlich Folgendes: Die von SPÖ und ÖVP vertretenen Positionen in fiskalpolitischen Streitfragen variierten und waren kaum von ideologischen Positionen bestimmt. Auch der „Schuldenkanzler“ Kreisky ist bei näherer Betrachtung zu relativieren, wenngleich er selbst mit populistischen Aussagen – am bekanntesten sein Spruch, dass ihm „ein paar Milliarden Schilling Schulden weniger schlaflose Nächte“ bereiten würden „als ein paar Hunderttausend Arbeitslose mehr“ – maßgeblich dazu beigetragen hat, diesen Mythos zu festigen.

Rasant steigende Staatsausgaben waren ein Phänomen, mit dem sich sämtliche Finanzminister seit den 1950er-Jahren zu befassen hatten. Wie generell in den westeuropäischen Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, so bekam auch in Österreich der Ausbau der sozialen Sicherheit enormes Gewicht. Die öffentlichen Leistungen wurden sukzessive ausgeweitet: Löhne und Pensionen, Arbeitslosenunterstützung, Zuschüsse an Sozialversicherungsanstalten, Kinder- und Familienbeihilfen im Kontext steigender Geburtenraten – all das lastete schwer auf dem Staatshaushalt. An den Schuldenquoten (Staatsschulden in Relation zum BIP) war das kaum abzulesen. Die Wirtschaft wuchs, bis auf kleinere Einbrüche, weiter kräftig.

Um Rezessionen zu durchtauchen, setzte die Politik schon lange vor Kreisky auf Deficit Spending: So nahmen die ÖVP-Finanzminister Reinhard Kamitz und Wolfgang Schmitz in den Jahren 1958 bzw. 1967 im Sinne einer antizyklischen Fiskalpolitik bewusst hohe Defizite in Kauf. Gestützt auf die Sozialpartner und eine harte Währung verfolgten sie damit im Prinzip genau jene Politik, die später, auf die Wirtschaftspolitik unter Kreisky und Finanzminister Hannes Androsch in den 1970er-Jahren gemünzt, als „Austro-Keynesianismus“ in die Geschichte eingehen sollte.

Während das „muddling through“ bei Kamitz und Schmitz gelang, bewirkten die beiden „Ölpreisschocks“ der 1970er-Jahre eine nachhaltige Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Staatsschuld stieg in ungeahnte Höhen. Beim Regierungsantritt Kreiskys hatte sich die Schuldenquote des Gesamtstaates auf rund 18 Prozent belaufen, 1983 waren es bereits rund 44 Prozent. Die steigende Zinsbelastung schränkte die budgetären Spielräume empfindlich ein.

Wandlungsfähige Parteien

Erstaunlich ist die Wandlungsfähigkeit der Parteien: dass die SPÖ Kamitz 1958 Beifall zollte, lag vor allem an ihrer Rolle als Koalitionspartnerin. Denn als die ÖVP ab 1966 allein regierte, stellte sich die SPÖ entschieden gegen den hohen Budgetabgang des Jahres 1967 und verurteilte den „Schuldengalopp“ der Regierung. Kaum anders agierte die ÖVP in den 1970er-Jahren, als sie in Opposition war.

Beide Regierungsparteien befürworteten im Übrigen infolge der Wirtschaftskrise ab 2008 eine expansive Budgetpolitik, um dann im Kontext der Eurokrise einhellig auf einen Sparkurs umzuschwenken – von rhetorischen Abweichungen abgesehen. Die Schuldenquote hatte zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr als 70 Prozent erreicht.

Antizyklische Fiskalpolitik

In der Tat finden sich starke Argumente, die für eine konjunkturbelebende Wirkung antizyklischer Fiskalpolitik in der Zweiten Republik sprechen. Umgekehrt deutet wenig darauf hin, dass diese Effekte stark genug sind, um einen Anstieg der Staatsschuldenquote infolge von Deficit Spending zu verhindern.

Die Hauptursache für die steigende Schuldenquote lag ohnehin weniger in konjunkturbedingten Schuldensprüngen als vielmehr in der strukturellen Verschuldung, bedingt durch Sozialleistungen, Verwaltung, schließlich auch durch den Finanzschuldenaufwand.

Kreiskys Nachfolger setzten zwar – insbesondere seit dem EU-Beitritt und mit Fokus auf die Maastricht-Kriterien – einzelne Konsolidierungsmaßnahmen, jedoch kaum auf substanzielle Reformen, sofern sie solche überhaupt ernsthaft in Angriff nahmen.

Die inkonsequente Haltung der Politik ist nicht zuletzt ein Spiegel der ambivalenten öffentlichen Meinung: Bereits in den frühen 1980er-Jahren zeigte sich in Meinungsumfragen wachsende Besorgnis über die hohen Budgetdefizite. Einschnitte galten dennoch als Tabu. Der Budgetexperte Gerhard Lehner diagnostizierte 1983, „dass die Bevölkerung lange Zeit immer mehr öffentliche und soziale Leistungen sowie die Übernahme verschiedener Risken erwartete (. . .), aber nur mit steigendem Widerstand bereit ist, die Finanzierung durch (höhere) Steuern zu tragen“.

Die Schlüsse daraus sind heute so aktuell wie damals: Einerseits sind Schulden negativ besetzt, andererseits lassen sich tiefgreifende Konsolidierungsbemühungen kaum in Wahlerfolge ummünzen: ein Dilemma, das populistischer Rhetorik Tür und Tor öffnet.

DIE AUTOREN

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Mag. Dr. phil Walter M. Iber (*1979 in Graz) ist Historiker. Er ist Assistent am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz. Gleichzeitig ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im OeNB-Forschungsprojekt „Fiskalpolitik und Staatsverschuldung in der sehr langen Frist am Beispiel Österreichs, 1811 bis 2012“.

Mag. Christoph Zwick, (*1986 in Graz)

absolvierte das Masterstudium Volkswirtschaftslehre in Graz. Er ist gegenwärtig Universitätsassistent am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem internationale Makroökonomik und Staatsverschuldung. [ Fotos: privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2016)

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