Die Russifizierung der amerikanischen Politik

Als US-Bürgerin, die in Moskau geboren ist, kann man nur mit Entsetzen registrieren, dass einige der unangenehmsten und perversesten Merkmale der russischen Politik inzwischen auch in den USA anzutreffen sind.

Man kann zwar eine Russin aus Russland herauslösen, aber es ist nicht möglich, Russland aus der Russin herauszubekommen. Ich bin Amerikanerin, aber geboren bin ich in Moskau. Zu einer Zeit, da die Politik in den USA eine so bizarre Wende genommen hat, kann meine russisch gefärbte Brille meinen amerikanischen Mitbürgern vielleicht helfen, die Situation etwas zu verstehen.

Aus meiner Sicht sieht es ganz danach aus, als seien einige der unangenehmsten und perversesten Merkmale der russischen Politik inzwischen auch in den USA vorhanden. So ist die große Lüge – erfunden in Nazideutschland, perfektioniert in der Sowjetunion und meisterhaft ausgeübt durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin – heute ein wichtiger Bestandteil der Präsidentschaftskampagne von Donald Trump.

Viele „nützliche Idioten“

Bisher ist Trump mit seinen Lügen davongekommen. Die Medien waren hauptsächlich das, was Lenin als „nützliche Idioten“ bezeichnete: So darauf erpicht, mit Trump ihre eigenen Quoten zu verbessern, dass sie nicht bemerkten oder es ihnen egal war, dass sie damit auch seine Quoten verbesserten. Es ist daher kein Wunder, dass ein ermutigter Trump immer frecher lügt.

Nachdem er beispielsweise Jahre damit verbrachte, die sogenannte Birther-Bewegung anzuführen, die behauptete, Barack Obama sei gar nicht in den USA geboren und könne daher das Amt des Präsidenten nicht ausüben, behauptete Trump zuletzt, in Wahrheit sei es seine Rivalin Hillary Clinton gewesen, die 2008 die Kontroverse initiiert habe. Seine Aufgabe sei es, dieses Gerücht aus der Welt zu schaffen. „Präsident Barack Obama“, erklärte er triumphierend (als hätte es darüber jemals irgendwelche Zweifel gegeben), „wurde in den USA geboren. Punkt.“

Manche meinen, die Medien würden sich angesichts der dreisten Verlogenheit des Kandidaten nun gegen Trump wenden. Dennoch hat er noch immer gute Umfragewerte, was darauf schließen lässt, dass viele seiner Unterstützer bereit sind, seine offenkundigen Lügen zu glauben – oder sie zumindest zu übersehen. Das spiegelt teilweise vielleicht ein weiteres „russisches“ Merkmal des aktuellen US-Wahlkampfes wider: die Macht der Oligarchen. Der erste postsowjetische Präsident Russlands, Boris Jelzin, hatte eine Abmachung mit den reichsten Bürgern des Landes: Sie würden seine Wiederwahlkampagne finanzieren, dafür hätten sie privilegierten Zugang zu den Kronjuwelen der russischen Industrie, wenn sie privatisiert würden.

Ähnlich hässliche Geschäfte werden heute dank einer anderen Gruppe nützlicher Idioten in den USA gemacht: den konservativen Richtern des Obersten Gerichtshofes der USA, die dem Land 2010 die berüchtigte „Citizens United“-Entscheidung beschert haben. Diese Entscheidung erweiterte den verfassungsmäßigen Schutz der freien Rede auf Spenden für politische Wahlkämpfe und beseitigte damit alle Beschränkungen der Macht des Geldes über die Politik.

Bei Fox nur noch Banalitäten

In Russland müssen sich die Oligarchen Putin gegenüber verantworten. In den USA hingegen sieht es so aus, als seien die Politiker den Oligarchen gegenüber rechenschaftspflichtig, deren Geld sie verwenden, um normale Bürger zu manipulieren. Beweisstück A ist Rupert Murdoch, Vorsitzender und ehemaliger CEO von News Corporation und 21st Century Fox. Über die Jahre haben Murdochs Medien eine führende Rolle dabei gespielt, die EU zu verunglimpfen und damit auch zum Brexit beigetragen. Nun, da Murdoch als CEO von Fox News Roger Ailes abgelöst hat, der inmitten einer Vielzahl an Vorwürfen über sexuelle Belästigungen zurücktreten hatte müssen, scheint er es als seine Mission anzusehen, US-Wähler dazu zu drängen, eine schreckliche Wahl zu treffen.

Seitdem Murdoch im Juli übernommen hat, geht es bei Fox News nur noch um Donald Trump, nicht mehr um Nachrichten. Moderatoren, die Trump früher kritisch gegenüberstanden, präsentieren nur noch Banalitäten. Und Ailes berät offen Trumps Kampagne.

Die vielleicht enttäuschendste Parallele zwischen Russlands Vergangenheit und Amerikas Gegenwart ist etwas, was ich das „Schweigen der Böcke“ nenne: die Weigerung derjenigen, die Einfluss haben, aufzustehen und den Irrsinn beim Namen zu nennen. Die Oktoberrevolution in Russland war 1917 hauptsächlich deswegen erfolgreich, weil die Gegner der Bolschewiken so beschäftigt waren, ihre eigenen Positionen und ihr Prestige zu schützen, dass sie sich nicht gegen die rote Gefahr vereinten.

Wahrer Patriotismus

Heute gehen einflussreiche Republikaner mehr oder weniger denselben Weg. Natürlich sind einige führende Republikaner gegen Trump. Der ehemalige Gouverneur von Massachusetts, Mitt Romney, hat zuletzt hart gearbeitet, um Trump als gefährlichen Betrüger zu entlarven. Zudem haben 50 hochrangige republikanische Sicherheitsexperten einen Brief unterzeichnet, in dem sie eindringlich warnen, Trump sei eine Bedrohung für die Sicherheit und den Wohlstand des Landes.

Die Senatoren Lindsay Graham und Ben Sasse haben Trump auch als eine Bedrohung für Freiheit und Weltfrieden bezeichnet. Und der ehemalige Präsident George H. W. Bush hat verlauten lassen, dass er Clinton wählen werde. Diese Republikaner beweisen wahren Patriotismus, indem sie das Land über die Partei stellen.

Verstummte Parteilöwen

Aber wie sieht es mit Paul Ryan, dem aktuellen Sprecher des Repräsentantenhauses aus? Wenn Ryan wirklich der engagierte Katholik ist, als der er sich gern brüstet, warum kritisiert er nicht Trumps rassistische Aussagen und seine unehrlichen Geschäftspraktiken. Stattdessen tut Ryan so, als sei Trump der Präsidentschaft würdig.

Und schließlich, wo sind all die vielen alten republikanischen Löwen? Wenn sie verhindern wollen, dass Trump den guten Ruf ihrer Partei und die Zukunft des Landes zerstört, dann sollten sie bald mit dem Brüllen beginnen. Und doch hält sich der ehemalige Präsident George W. Bush zurück, anscheinend immer noch erbittert darüber, dass Trump seinen Bruder Jeb in den Vorwahlen geschlagen hat.

James Baker, der sowohl unter Ronald Reagan als auch unter George H. W. Bush hohe Regierungsposten innehatte, hat öffentlich noch kein Wort zu Trump gesagt, ebenso wenig wie George Shultz, Henry Kissinger, Condoleezza Rice oder Dick Cheney. Wir wissen, dass Colin Powell Trump verabscheut, aber nur, weil seine E-Mails geleakt wurden.

Als Jelzin zurücktrat, hat er Russland der Gnade seines von ihm auserkorenen Nachfolgers, Wladimir Putin, überlassen. Für ihre Partei, ihre eigene Ehre und ihren eigenen Ruf sollten sich die alten Parteilöwen öffentlich von Trump distanzieren, damit ein ähnlicher Schaden von ihrem – und meinem – Land abgewendet werden kann.

Aus dem Englischen von Eva Göllner.

Copyright: Project Syndicate, 2016.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN


Nina L. Chruschtschowa
(*1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und dissertierte an der Universität Princeton. Sie ist die Urenkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie Professorin für Internationale Angelegenheiten und Senior Fellow am World Policy Institute. Zuletzt erschienen: „The Lost Khrushchev: Journey into the Gulag of the Russian Mind“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.