Erkenntnis des VfGH liefert Anleitung zum Missbrauch

In Zukunft ist jegliches Wahlergebnis in Schwebe und der Willkür ausgesetzt.

Heinz Mayer schreibt in einem Gastkommentar in der „Presse“ (6. 10.), dass der Verfassungsgerichtshof bei seiner Entscheidung über die Wahlaufhebung des zweiten Durchgangs der Bundespräsidentenwahl die verfassungsrechtliche Situation sowohl inhaltlich als auch verfahrenstechnisch falsch beurteilt und eine klare Fehlentscheidung getroffen habe. Er bezieht sich im Wesentlichen auf die bekannte Argumentation, dass der Verfassungsgerichtshof entgegen dem klaren Wortlaut des Art. 141 Abs. 1 B-VG mit Hinweis auf frühere Entscheidungen der Wahlanfechtung stattgegeben hat, obwohl weder eine Manipulation noch ein Einfluss auf das Wahlergebnis behauptet oder gar festgestellt wurde.

Die Argumentation des VfGH ist schon deshalb verfehlt, weil in Österreich das im anglosächsischen Raum geltende „Case-Law System“ nicht gilt und ergangene Gerichtsentscheidungen den Gesetzeswortlaut nicht ändern können. Dazu kommt, dass der Verfassungsgesetzgeber mit der Verwaltungsgerichtsbarkeitsnovelle 2012 Art. 141 zwar geändert hat, aber ausdrücklich übernommen hat, dass eine Stattgebung einer Wahlanfechtung nur dann möglich ist, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war.

Damit hat der Gesetzgeber unmissverständlich klargelegt, dass er ungeachtet einer davon abweichenden Judikatur des VfGH darauf besteht, dass ohne Nachweis des Einflusses auf das Verfahrensergebnis eine Stattgebung einer Wahlanfechtung nicht zulässig ist.

Was bisher unbeachtet blieb

Bisher unbeachtet geblieben ist: dass sich der VfGH mit der Interpretation des Art. 141 Abs. 1 B-VG nicht begnügt hat und den Halbsatz „und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war“ zur Gänze gestrichen hat. Wörtlich heißt es in RZ 496 des Erkenntnisses des VfGH vom 1. 7. 2016: „Dabei ist das Vorliegen dieser Voraussetzung nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs bereits dann zu bejahen, wenn eine Vorschrift der Wahlordnung verletzt wurde, die die Möglichkeit von Manipulationen und Missbräuchen im Wahlverfahren ausschließen will, und zwar ohne dass es des Nachweises einer konkreten das Wahlergebnis tatsächlich verändernden Manipulation bedürfte.“

Bundesverfassung geändert

Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs hat geradezu eine Anleitung zum Missbrauch geliefert. Künftighin kann jede Wahlgruppe Wahlen wegen geringster Rechtsverletzungen solange erfolgreich anfechten, bis das von ihr erwünschte Ergebnis erzielt wird.

Mit diesem Eingriff hat der VfGH die Bundesverfassung in unzulässiger Weise geändert und damit seine Kompetenz überschritten. Der VfGH hätte jedenfalls vor einer solchen Entscheidung die Bundesregierung, Landesregierungen und Gemeindevertretungen zu einer Stellungnahme einladen müssen. Die Wahlanfechtung gemäß Art. 141 bezieht sich nämlich nicht bloß auf die Bundespräsidentenwahl, sondern auf alle Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern, also auch auf Nationalratswahlen, Landtagswahlen und Gemeinderatswahlen.

Wenn jedes Wahlergebnis in Schwebe und der Willkür ausgesetzt ist, ist die demokratische Grundlage unseres Wahlsystems infrage gestellt. Wöchentlich bringen Wähler, deren Wahlstimmen durch das VfGH-Erkenntnis für nichtig erklärt wurden, Gruppenbeschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein, um die Verletzung der Wahlgrundrechte durch den VfGH festzustellen. Der EGMR hat entgegen der Prophezeiung vieler Kritiker die Beschwerden angenommen und erklärt, sie auch zu behandeln.

Dr. Georg Zanger (*1947) ist Wirtschaftsanwalt und auch in Grundrechtsfragen tätig.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.