Putins Jagd auf "ausländische Agenten"

Menschen, die sich im heutigen Russland eine selbstständige und reflexive Auseinandersetzung mit Fakten nicht nehmen lassen wollen, stehen unter Beobachtung. Das Regime hält sie für feindselig und unpatriotisch.

In der Gesellschaft und der politischen Elite Russlands gleichermaßen gilt es als ausgemacht, dass das Land von Feinden umzingelt ist. In einem Staat, dessen Massenmedien – und vor allem das Fernsehen – weitgehend gleichgeschaltet sind und in dem 86 Prozent der Bevölkerung angeben, politisch relevante Informationen in erster Linie eben aus dem Fernsehen zu beziehen, könnte es kaum anders sein.

Das „feindselige Ausland“ und die „russophobe Außenpolitik“ anderer – vor allem westlicher – Staaten und Organisationen ist ein täglich wiederkehrendes Propagandamotiv. Diese wahrgenommene Feindseligkeit löst reflexartige Reaktionen aus. Und so werden sowohl die Gleichschaltung der Medien selbst als auch die Verfolgung der politischen Opposition oder die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 und die Beteiligung der russischen Armee am Konflikt in der Ostukraine offiziell als „Verteidigung“ dargestellt.

Galgenhumor bei Memorial

Auch die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Land wurden und werden bei zahlreichen Gelegenheiten verdächtigt, „dem Ausland“ zuzuarbeiten, die Opposition zu unterstützen oder sogar einen Umsturz vorzubereiten.

Seit 2012 werden die NGOs, wenn sie nach Meinung der Behörden Finanzmittel aus dem Ausland annehmen und sich „politisch betätigen“, vom Justizministerium in ein eigenes Register eingetragen und müssen sich fortan als ausländischer Agent bezeichnen. Politisch tätig sind sie dann, wenn man nachweisen kann, dass sie die öffentliche Meinung beeinflussen. Wie kann aber eine NGO nicht öffentlich wirksam sein?

Das betrifft nun mit Memorial seit wenigen Tagen auch die wohl bekannteste NGO Russlands. Die „politische Tätigkeit“ wurde Memorial anhand von fünf Protestschreiben nachgewiesen: drei davon gerade gegen das neue NGO-Gesetz, eines gegen den Einsatz der russischen Armee in der Ukraine und eines nach dem Mord an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow im Februar 2015.

Bei Memorial beweist man Galgenhumor: Man sei nun unter den Besten! In der Tat erfasst das Register der „ausländischen Agenten“ bereits nicht nur verschiedene lokale zivilgesellschaftliche Initiativen im ganzen Land, das bekannte Sacharow-Zentrum in Moskau sowie Memorial-Zweigstellen in Rjazan und St. Petersburg, sondern mit dem Moskauer Lewada-Zentrum auch das führende unabhängige Meinungsforschungsinstitut Russlands.

Sie alle vereinen Menschen, die sich eine selbstständige und reflexive Auseinandersetzung mit Fakten nicht nehmen lassen wollen. Eine solche Haltung ist für das gegenwärtige Regime in Russland nicht nur an sich „politisch“, sondern zeugt von feindseliger und unpatriotischer Gesinnung. Es bekämpft daher solche Menschen – Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Historiker, Soziologen usw.

Der Staat ist sakrosankt

Wie der deutsche Zweig von Memorial in einer Presseerklärung hervorhob, möchte die russische Regierung „nicht nur einen Keil zwischen einer der bedeutendsten NGO des Landes und der russischen Gesellschaft treiben; auch die historische Aufarbeitung mit dem Sowjet-Erbe soll zum Erliegen kommen“. In der Tat hatte es sich Memorial zur Aufgabe gemacht, die Geschichte des Staatsterrors in der Sowjetunion so gut wie möglich zu dokumentieren.

Wie Memorial-Mitarbeiter Jan Ratschinskij meinte, gab es in der ganzen Geschichte des 20. Jahrhunderts nichts mit dem Großen Terror unter Stalin Vergleichbares: Es gab Monate und Jahre, in denen buchstäblich jede Minute jemand erschossen worden ist, weil ihn der Staat als „Volksfeind“, „ausländischen Agenten“ oder „antisowjetisches Element“ ansah.

Der Staat ist auch im postsowjetischen Russland bis heute sakrosankt, er darf nicht kritisiert oder gar Verbrechen beschuldigt werden. Kulturminister Wladimir Medinskij, ein habilitierter Historiker, gab vor Kurzem öffentlich seiner „tiefsten Überzeugung“ Ausdruck, dass es „sinnlos“ sei, nach „wahren“ historischen Fakten zu suchen: Sie könnten sich unnötig oder gar schädlich erweisen, und zwar insbesondere dann, wenn sie „russlandfeindlich“ seien.

Schließlich sei die historische Arbeit immer auch „ein Kampf um menschliche Seelen“. Und so dürfe man auch und gerade als Historiker so manche „heilige“ historische Mythen und Legenden nicht einmal anrühren.

„Derationalisierung“ im Gange

Mit anderen Worten: Alles, was die Heroisierung und Glorifizierung der Vergangenheit fördert, gilt als heilig. Und wenn man unerfreuliche historische Fakten verschweigt, leugnet oder bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, hat man sich zum „wahren Patrioten“ qualifiziert. Wer aber historische Ereignisse unabhängig von ihrem „Nutzen“ für das heutige wie auch immer verstandene Image Russlands erkundet und die Resultate veröffentlicht, kann sich ganz leicht als „Feind“ oder „Agent“ deklarieren. Denn nur das „feindselige Ausland“ könne ein Interesse haben, den russischen Staat (und seine Führung, ob vergangene oder gegenwärtige) in einem unvorteilhaften Licht darzustellen.

Das betrifft natürlich nicht nur die Geschichte. Der Soziologe Lew Gudkow, Direktor des nun ebenfalls auf der Abschussliste stehenden Lewada-Zentrums, konstatierte eine zunehmende „Derationalisierung“ der russischen Gesellschaft: Sachliches Denken und Argumentieren werde durch Propaganda, deren Intensität größer sei als zu sowjetischen Zeiten, aus dem öffentlichen und politischen Raum verdrängt. Mythen und Verschwörungstheorien seien nicht nur salonfähig, sondern sogar die populärsten Erklärungsmuster, die man völlig unbedenklich im staatlichen Fernsehen äußern kann.

Vielversprechende Ordnung

Auch der britische Journalist Peter Pomerantsev beschreibt in seinem Buch „Nichts ist wahr und alles ist möglich“, wie sich die russische Gesellschaft zuletzt zu einer „fragilen Realityshow“ gewandelt hat, in der Worte und Taten nur Verwirrung stiften und jeden Realitätsbezug eingebüßt haben. Die Putin-Führung propagiert eine Weltsicht „ohne Wahrheit und Lüge“ und führt offenkundige, doch „unerwünschte“ Fakten ad absurdum.

Zahllose Menschen in Russland und sogar im Ausland sehen darin keine besonders raffinierte Form von Gewalt, sondern sogar eine vielversprechende gesellschaftliche Ordnung. Diese erscheint ihnen deutlich attraktiver als die langweilige, mühselige und hoffnungslos veraltete Freiheit, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden und für beide die Verantwortung zu übernehmen.

Das ist in Regimen wie jenem vom Putin nicht vorgesehen. Dort regieren Rechtlosigkeit und Manipulation, die sich nicht mit der Beachtung von Begriffsinhalten, Fakten oder Gesetzen der Logik aufhalten. Die Frage, die sich da stellt, lautet: Wie kann es sein, dass diese neue Ordnung Millionen Westeuropäern so attraktiv erscheint?

DIE AUTORIN

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Anna Schor- Tschudnowskaja
(*1974 in Kiew) ist Soziologin und Psychologin. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Sie ist Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Zahlreiche Publikationen, zuletzt Mitherausgeberin des Sammelbandes „Der Zerfall der Sowjetunion“ (Nomos Verlag). [ Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2016)

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