Die Ausblendungen der Moralisten

Die Ungarn-Krise 1956 und die ständigen politischen Ermahnungen an Budapest zur europäischen Solidarität.

Historische Vergleiche können helfen, die politische Gegenwart besser zu begreifen. Darin liegt der tiefere Sinn aller komparativen Geschichtsforschung. Doch gewisse Analogien werden inflationär und vor allem falsch eingesetzt. Dazu gehört, dass das Abkommen von München 1938 immer herangezogen wird, wenn es um Verhandlungen mit Autokraten geht.

Jeder Sachverhalt verdient seine besondere Beurteilung und das Wissen um die historischen Zusammenhänge. Einen vermeintlich ähnlich gelagerten Fall heranzuziehen ist nur dann von Nutzen für die Debatte, wenn wesentliche Merkmale der Sachverhalte vergleichbar sind. Alles andere verzerrt die Diskussion oder führt in die Irre. Eine Analogie, die im Zuge der Flüchtlingskrise zur Referenz für viele wurde, ist die Ungarn-Krise 1956. Und diese Referenz hinkt gewaltig.

Ob Kardinal Schönborn, Wiener Sozialdemokraten oder jüngst der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn – sie alle bemühen die erfolgreiche Bewältigung der Ungarn-Krise: zum einen mit Blick auf die damalige große Hilfsbereitschaft, zum anderen, um den Ungarn vorzuhalten, dass sie, die einst so von Solidarität profitiert hätten, sich heute aus der Pflicht zur europäischen Solidarität stehlen. Dabei blenden die Moralisten Wesentliches aus.

Kuhhandel der Weltmächte

Im Herbst 1956 arrangierten die Weltmächte vor dem Hintergrund einer brisanten Krise des Kalten Kriegs einen Kuhhandel. Während die Ungarn sich gegen die stalinistische Führung erhoben, lieferten sich Großbritannien und Frankreich vor der ägyptischen Küste mit Präsident Nasser einen letzten Akt europäischer Kanonenboot-Diplomatie.

Nach der Verstaatlichung des Suezkanals und der Sperre des Kanals für israelische Schiffe intervenierten die beiden Noch-Kolonialmächte und besetzten den Sinai. Nasser wurde in London und Paris zu einer Art „Hitler am Nil“ stilisiert. Die USA und die Sowjetunion einigten sich darauf, den Konflikt vor die UNO zu bringen. Zeitgleich schlug die Sowjetarmee den ungarischen Volksaufstand nieder. Der Nahe Osten wurde zum Teil des Kalten Kriegs, und die Ungarn bezahlten hierfür die wesentliche Zeche.

Freie Hand für Moskau

Um keinen größeren Konflikt im östlichen Mittelmeer zu riskieren, ließ man Moskau freie Hand in Ungarn. Nach dem sowjetischen Einmarsch folgten Massenverhaftungen, Prozesse und der Exodus jener, die es über die Grenze in Burgenland schafften.

Viele Flüchtlinge fanden anfänglich Aufnahme bei Bauern, halfen bei der Feldarbeit mit und wohnten in einfachsten Verhältnissen. Abgesehen davon, dass es sich um Menschen aus derselben Kultur handelte, war die Aufnahme unkomplizierter, denn niemand forderte Mindestsicherung, die es nicht gab. In der ungarischen Erinnerung ruft vieles von dem, was die große Flucht betroffen hat, kaum die Idee einer europäischen Solidarität hervor. Vielmehr liegt über vielem ein bitterer Nachgeschmack.

Vom Rest der Welt missverstanden zu sein ist eine Konstante der magyarischen Selbstwahrnehmung. Das hat nicht nur mit der Eigenheit der Sprache zu tun, sondern ist die Folge so mancher historischer Niederlage.

Wenn nun europäische Politiker die Ungarn 2016 harsch an die viel zitierte europäische Solidarität erinnern, haben sie die Geschichte von 1956 nicht verstanden. Aussagen, wie jene des Luxemburgers Asselborns, Ungarn aus der EU zu werfen, weil es die Verteilungsquote Brüssels ablehne, haben jene befeuert, die am 2. Oktober gegen die europäische Flüchtlingspolitik gestimmt haben. Analogien in extremis zu bedienen führt zu extremen Gräben.

Dr. Karin Kneissl (*1965 in Wien) ist
außenpolitische Expertin, Buchautorin
und Vizepräsidentin der Gesellschaft für Politisch-Strategische Studien .

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2016)

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