Wien, 1900: Wenn die Nostalgie wieder Konjunktur hat

Replik. Ungenaues und Fehlerhaftes in zwei „Quergeschrieben“ zur Ära des Fin de Siècle.

Nostalgie hat Konjunktur auf den Debattenseiten der „Presse“, Jahreswechselzeit. So beschwört Herr Martin Engelberg in seinem „Quergeschrieben“ vom 3. Jänner etwas seltsam zitierend „die Werte des Liberalismus im Wien vor 100 Jahren“. Nur, Herr Engelberg nennt da auch den Franz-Josef-Kaiser oder den Gustav Mahler, sie waren allerdings schon tot vor 100 Jahren; von anderen Ungenauigkeiten wollen wir lieber nicht reden.

Engelberg wird aber zwei Tage später von Rudolf Taschner in seinem „Quergeschrieben“ bejubelt, der von „völliger Freiheit“ oder von einem eher abenteuerlichen Liberalismus herumschwadroniert. Beide schreiben zudem von einer „Tradition“. Von welcher?

Na, okay. Man beruft sich halt auf gern zitierte Fin-de-Siècle-Bücher von ehedem (wie stets auf den eher großzügig-weinerlichen Carl E. Schorske) und setzt dabei den wieder gebräuchlichen Intellektuellenjammer von der guten alten Zeit fort. Das Kommentarpublikum dankt untertänig auf der „Presse“-Homepage.

Oder, nicht okay. Denn das „Quergeschrieben“ von Herrn Taschner strotzt von Fehlern. Der Mathematiker ist von rechter Großzügigkeit. Er beschäftigt sich mit „Wien um 1900“ und zählt fesche Kulturdaten oder -persönlichkeiten auf, wie man das auch gern etwa in Volkshochschulgedenkkalendern macht.

Bitte um historische Exaktheit

Er erfindet eine „bunte Palette“. So etwa: „Makart und Klimt“ (aber Klimt, der damals erst am Beginn dessen, was ihn bedeutend machte, stand, hätte sich ziemlich dagegen verwehrt, dergestalt mit Hans Makart genannt zu werden. Und Makart ist schon 1884 gestorben!). Dann „Freud und Adler“ (abermals die Bitte um eine historische Exaktheit, Sigmund Freud hielt 1900 bei der „Traumdeutung“ und Jahre vor den Schriften über Sexualität; Alfred Adler agierte noch nicht einmal im engen Freud-Umkreis, aber als Augenarzt). Sodann „Schönberg und Hauer“ (der damals noch Spätromantiker Schönberg verwahrte sich zeit seines Lebens heftigst, mit Hauer genannt zu werden; Hauer hingegen begann sein Nomos-Komponieren zehn und dasjenige mittels Tropen erst 20 Jahre später).

Das andere Wien

Fast schon ungustiös ist es allerdings, wenn Taschner in seiner Erklärungsfülle in seltsamen Doppeln mit „Weiniger und Buber“ agiert. Bitte! Martin Buber war damals 22 (er wird erst in einem Vierteljahrhundert sein Hauptwerk herausbringen). Und den Otto Weiniger verschweigt man seit Jahren und ganz zu Recht. Sein antisemitisches Hauptwerk war „Geschlecht und Charakter“ (1903, kurz bevor sich Weiniger umbrachte; zugegeben, weiland geilte sich die halbe Intelligenzia mit dem Buch auf).

Hat Professor Taschner dieses Buch je gelesen? Oder wenigstens seine harsche Conclusio? („Dass das Weib den Koitus verlangt, und nicht die Liebe, bedeutet, dass es heruntergesetzt und nicht erhöht werden will. Die letzte Gegnerin der Frauenemanzipation ist die Frau.“)

Vielleicht denkt man aber auch daran, wenn man die sogenannte Wiener Hochkultur von 1900 bejubelt, dass die (vor allem zugewanderte) Bevölkerung Wiens damals zu 70 Prozent in Verhältnissen lebte, die nicht einmal mit der Dritten Welt heute vergleichbar sind. Oder dass in Wien der Brutalonationalismus wuchs, der schon bald Europa in Teilen untergehen ließ. Oder dass bei aller Freude an den reichen Ständen und dem Großbürgertum parallel ein riesiger Adels- und Offiziersstand herrschten, die in ihrer wachsenden Abgekapseltheit jede heutige Vorstellung von „Liberalismus“ verhöhnt haben.

Otto Brusatti (* 1948 in Zell am See) ist Musikwissenschaftler, Radiomoderator, Regisseur und Autor.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(Print-Ausgabe, 13.01.2017)

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