Nein, Herr Kehlmann, die Kunst kann doch lügen

Ein paar Überlegungen zu Daniel Kehlmanns neuem Stück „Heilig Abend“.

Zwei Mal steige ich an diesem einen Tag ins Auto – und jedes Mal just zu dem Zeitpunkt, als Ö1 eine Sendung mit Daniel Kehlmann ankündigt. In der kurzen Werbesequenz fällt ein Satz des Schriftstellers: „Die Kunst lügt nicht.“ Ich bin konsterniert und schüttle den Kopf, das kann doch nicht einfach so daher gesagt werden. Aber neugierig bin ich auf die Sendung und nehme mir fest vor: Heute Abend drehe ich das Radio auf.

Es kommt jedoch ganz anders. Meine Freundin ruft mich an und teilt mir mit, sie habe zwei Karten für die Premiere des neuen Stückes „Heilig Abend“ von Daniel Kehlmann in der Josefstadt. Na bumm, also Daniel Kehlmann live sozusagen.

Meine Skepsis verfliegt nach den ersten Minuten. Mit Bernhard Schir als Kommissar, Ermittler, besser gesagt als Verhörspezialist und Maria Köstlinger als verdächtige Philosophin sitzen sich zwei Ebenbürtige gegenüber. Ganz nach Kehlmanns Intentionen stehen sich die Macht der Staatsgewalt und die Macht der Sprache gleichgestellt gegenüber. Sprache, Schrift, Literatur, Philosophie sind eine subversive Gefahr für den Staat, die ausgesprochene Wahrheit schon ein terroristischer Akt. Eine Bombe, die jeden Augenblick hochgehen kann, eine Detonation, die verhindert werden muss.

Staatliche Paranoia

Als Symbol für diese zersetzende Kraft muss der Philosoph, Bürgerrechtler, Psychiater und Kämpfer wider die Kolonialisierung, Frantz Fanon, herhalten. Er, der als Begründer einer „antikolonialen Gewalt“ gilt, wird hier, als Befürworter von widerständiger Gegengewalt zur Befreiung aus den kolonialen Klauen, verhandelt.

Die Beschäftigung der Philosophin mit Fanon macht unsere Protagonistin verdächtig, erlaubt der Staatsgewalt, sie bis ins Bett auszuspionieren. Verleiht einem scheinbar allwissenden Kommissar Macht über die Verhaftete und doch nicht Verhaftete, nur Festgehaltene. Die wehrt sich tapfer, schleudert der staatlichen Paranoia die Vermutung der Instrumentalisierung der Angst entgegen. Es scheint klar, wer hier das Opfer werden wird.

Verrat in vier Minuten

Die Kunst, Philosophie, Literatur lügt nicht, die Sprengkraft des Wortes liegt in der Luft. Doch Kehlmann schafft es, in nur drei, vier Minuten sich selbst Lügen zu strafen. Der Versuch der bedrohten und mit Gewalt traktierten Verdächtigen, sich nicht gegen einen Bekannten ausspielen zu lassen, der anscheinend in einem anderen Raum verhört wird, mutiert plötzlich zur Komplizenposse.

Die Bedrohung schwillt akustisch an, black out, das Publikum atmet erleichtert auf – war ja doch vielleicht etwas dran – und applaudiert frenetisch. Mir ist schlecht. Kehlmann hat uns in vier Minuten verraten, ob aus falsch verstandener politischer Korrektheit, ob aus Verehrung tapferer Frauen – oder doch mit einem Gedanken an die Baader-Meinhof-Bande.

Es ist egal, der Satz des Kommissars: „Sie glauben doch nicht dass wir alle paranoid sind!“, der genau das ausdrückt, was die gezeigte strukturelle Gewalt und Totalüberwachung offenlegt, wurde relativiert, für ein bürgerliches Publikum verdaulich gemacht. Denn wie heißt der Titel eines neuen Buches von Stefan Horvath, einem Schriftsteller aus der Volksgruppe der Roma: „So gewaltig ist nichts wie die Angst.“ Es hätte ja auch die Philosophin als unschuldiges Opfer treffen können, das verschwinden muss, weil sich die Staatsgewalt an ihr vergangen hat. Aber vielleicht ist sie ja doch mitschuldig? Die Kunst kann doch lügen. Frenetische Erleichterung.

Alfred Masal ist Produzent, Produktionsleiter und Lichtdesigner bei Theaterproduktionen im Burgenland und Geschäftsführer des Offenen Hauses Oberwart.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2017)

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