Weiters Wachstum oder langfristige Stagnation?

Für alle Teilnehmer am Wirtschaftsprozess muss es ausreichend Anreize geben. Dann steigt auch die Produktivität wieder.

Noch immer sind sich die Fachleute nicht einig, ob wir nach der Krise in eine Phase langfristig geringer Wachstumsraten eingetreten sind, oder ob wir wieder auf einen wirtschaftlichen Aufschwung hoffen können. Wesentlich sind dabei der jährliche Produktivitätsfortschritt, der über die vergangenen Jahrzehnte gesunken ist, sowie die Entwicklung der Zahl aktiv Erwerbstätiger.

Zur Beantwortung der Frage, warum reiche Länder die Tendenz haben, ihre Wachstumsrate zu verlangsamen und ärmere Länder eher rascher wachsen, gab es schon viele Erklärungsversuche. In einer wachsenden und reicher werdenden Ökonomie verändert sich auch das Verhalten der Wirtschaftssubjekte. Ein häufiges Argument dabei ist die Sättigung der Ansprüche der Haushalte.

Aber mit steigendem Einkommen verändern sich nicht nur die Präferenzen von Haushalten und Unternehmen, sondern es entstehen auch Institutionen, die diesem höheren Einkommen entsprechen. In einem Teil der reicheren Länder (insbesondere Europa) wird das zunehmende Produktivitätsniveau dazu verwendet, sich mehr Freizeit zu gönnen. Auch die Intensität des Arbeitseinsatzes scheint eine Variable zu sein, das heißt zu sinken.

Streben nach Sicherheit

Eine wichtige Veränderung ist das Streben nach Sicherheit. Wenn ein Arbeitnehmer gut verdient und sich die wichtigsten Dinge des Lebens leisten kann, und er auch weiß, dass er, falls er den Job verliert, bald wieder einen neuen finden könnte, verhält er sich anders als ein Arbeitnehmer, der weiß, dass er so schnell keine andere Beschäftigung finden wird.

Das Streben nach Sicherheit zeigt sich aber auch auf der Unternehmensseite – hohe Risken werden gemieden, und auch die Banken achten zunehmend auf Sicherheit. Eine sichtbare Konsequenz dieser Haltung ist das starke Zunehmen des Volumens von Privatversicherungen und der Bedeutung der Sozialversicherungen. Das zunehmende Sicherheitsbedürfnis zeigt sich auch in vielen Institutionen wie Konsumentenschutz, Arbeitsgesetzgebung etc.

Wenn man verschiedene europäische Länder und die USA vergleicht, stellt man fest, dass der Produktivitätsfortschritt in Europa in den vergangenen 50 Jahren überall leicht gesunken ist. Im Gegensatz dazu unterliegt der Produktivitätsfortschritt in den USA zwar gewissen Schwankungen, hat sich aber in den vergangenen Jahrzehnten in der Tendenz nicht verändert. Da das Pro-Kopf-Einkommen in den USA deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegt, würde man annehmen, dass dort die Folgen des hohen Pro-Kopf-Einkommens stärker wirken müssten als in Europa. Dieses Phänomen bedarf einer Erklärung. Offenkundig ist die Veränderung, die ein hohes Einkommensniveau mit sich bringt, in den USA weniger weit fortgeschritten als in Europa.

So ist das Streben nach Sicherheit weniger ausgeprägt, am besten demonstriert durch die Bedeutung von sozialer Absicherung, die durch den Staat gewährleistet wird. Das gesamte System achtet mehr auf die Erhaltung von Leistungsanreizen und nimmt auch schwankende, aber in den vergangenen 20 Jahren in der Tendenz zunehmende Einkommensunterschiede in Kauf. Zunehmende Ungleichheit war auch in den USA ein Thema der vergangenen 20 Jahre, hat aber im Unterschied zu Europa zu viel weniger staatlicher Intervention in den marktwirtschaftlichen Prozess geführt.

Da der Einkommensunterschied besonders bei den Lohneinkommen sehr stark ist, standen sich zwei Meinungen gegenüber: einerseits die Meinung, eine möglichst rasche Verkleinerung dieser Einkommensunterschiede zu befürworten. Andererseits gab es die Meinung, dass die Signale des Arbeitsmarktes auf das Arbeitsangebot wirken müssen, damit die Struktur des Arbeitsangebotes sich schnell an die Nachfrage anpasst.

Gesetze zur Umverteilung

In Europa wurde eher die erste der beiden Varianten gewählt: durch umverteilende Gesetze und Institutionen die Ungleichheit zu reduzieren. Wenn man an die Sozialversicherungen denkt, so ist dieses Ziel wohl auch erreicht worden. Aber man hat sowohl in der Steuergesetzgebung als auch im Bereich der Sozialversicherungen außer Acht gelassen, dass das Wichtigste, was eine Ökonomie langfristig antreibt, die Anreize für die Marktteilnehmer sind.

Dies zeigt sich darin, dass nicht nur der Produktivitätsfortschritt seit einem halben Jahrhundert kleiner wird, sondern auch die Wachstumsrate der Investitionen. Maßgebend sind hier vor allem die Privatinvestitionen, die etwa 85 Prozent aller Investitionen ausmachen. Auch hier sind die veränderten Anreize der wesentliche Teil einer Erklärung.

Wenn für einen Investor der Anreiz tendenziell immer geringer wird, sein Geld zu riskieren, um mehr daraus zu machen, wird er stillhalten und es lieber nicht investieren oder in typische, risikoarme Investitionen anlegen – wie zum Beispiel in Immobilien. Dies jedoch ist dem Produktivitätszuwachs nicht förderlich.

Reduzierte Investitionsanreize

Wenn zudem die Rahmenbedingungen unsicherer gemacht werden, wenn etwa der Staat rückwirkende Steuergesetze verabschiedet, reduziert dies die Anreize zu investieren und zwar nachhaltig.

Ist es also richtig, was viele behaupten, dass wir unausweichlich in eine Phase eingetreten sind, in der die Wachstumsraten gering bleiben und voraussichtlich noch geringer werden, weil der Zustrom an Beschäftigten langsamer und der technische Fortschritt weiter zurückgehen wird?

Ich glaube nicht, dass es sich dabei um einen quasi naturgesetzlichen Kontext handelt. Dies wäre nur der Fall, wenn wir nicht erkennen können oder wollen, dass für alle am Wirtschaftsprozess teilnehmenden Investoren, Unternehmen und Arbeitnehmer ausreichend Anreize vorhanden sein müssen, damit sie sich so verhalten, dass die Produktivität wieder weiter steigen kann. Dazu wäre es notwendig, dass seit Langem bekannte Zusammenhänge in die politische Praxis umgesetzt werden.

Von den beiden Regierungsparteien sind zuletzt gehäuft Vorschläge gemacht worden, die, wenn sie realisiert werden, das System der Anreize wieder verbessern könnten. Dies scheint ein erstes Zeichen zu sein, dass das Bewusstsein zunimmt, dass wir unsere Institutionen wieder anreizkompatibler gestalten müssen, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.

Ein Kreis schließt sich

So schließt sich also der Kreis: Hohes Pro-Kopf-Einkommen führt zu Veränderungen der Institutionen und zur Verminderung der Anreize für alle Marktteilnehmer. Diese Entwicklung führt notwendigerweise zu einem geringen Produktivitätsfortschritt bzw. Wachstum.

Diese scheinbar unausweichliche, fast naturgesetzmäßige Entwicklung kann unterbrochen beziehungsweise hinausgeschoben werden, wenn die Bevölkerung und die Politik die Hintergründe dieser Veränderung durchschauen und entsprechend reagieren.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Prof. Dr. Bernhard Felderer (geb. 1941 in Klagenfurt) studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Wien und Paris. Lehrtätigkeit an mehreren Universitäten. Von 1991 bis 2012 war er Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS). Er war Mitglied und Präsident des Staatsschuldenausschusses, seit 2013 Präsident des österreichischen Fiskalrates. [ Clemens Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2017)

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