Gastkommentar

Die neue Flexibilität des Terrorismus

Praktisch jeder einschlägig Radikalisierte kann aus eigenen Stücken beim Jihad 3.0 der 2010er-Jahre mitmachen.

Die Attentate von London und Stockholm sowie zuletzt womöglich auch der Anschlag auf den Pariser Champs-Élysées haben strukturell die hässliche Fratze des neuen, hybriden Terrorismus gezeigt. Offenbar stecken nach derzeitigem Kenntnisstand keine vollwertigen Terrorzellen, hierarchischen Strukturen oder eine komplexe Vorbereitung hinter diesen Terrorattacken.

Die Vorgehensweise der Attentäter entspricht prototypisch dem sogenannten Gelegenheitsterrorismus. Signifikant für diese derzeit dominante Spielart terroristischen Vorgehens ist, dass sie bis zum Augenblick der nachträglichen Bekennerschaft von jihadistischen Terrornetzwerken entkoppelt ist. Islamistische Propaganda bietet dabei die ersehnte Legitimation für zumeist selbstradikalisierte Einzeltäter, häufig mit einer Vergangenheit im kleinkriminellen Milieu, die durch ihre terroristischen Aktionen gleichsam Teil eines Terror-Franchise werden.

Diese Lossagung von festen Strukturen erlaubt eine ungeahnte Flexibilität bei der Tatbegehung, was die Sicherheitsbehörden vor enorme Herausforderungen stellt. Der islamistische Terrorismus der „Dritten Generation“ hat sich verselbstständigt.

Das Primat der Spontanität

Praktisch jeder einschlägig Radikalisierte kann, ohne jemals zuvor als Islamist in Erscheinung getreten zu sein, sich aus eigenen Stücken aufschwingen und beim Jihad 3.0 der 2010er-Jahre mitmachen. Ohne langwierige Aufnahmeverfahren bzw. Initiationsriten, ohne jedwede Vorlaufzeit oder komplizierte Instruktionen. Eine Mitgliedschaft beim IS oder einer anderen islamistischen Terrororganisation ist mittlerweile nicht mehr notwendig. Man muss sich auch nicht mehr im Jihad bewiesen haben. Ebenso bedarf es vorab keiner Solidaritätsbekundungen zu einem Terrornetzwerk mehr. Alles unter dem Primat der Spontanität – gepaart mit einer erstaunlichen Einfachheit in der Durchführung. Danach reicht es nunmehr aus, eigeninitiativ tätig zu werden und sein perfides Gewalthandeln der islamistischen Sache zu widmen.

Propaganda der Tat

So paradox es klingen mag, kann dies als Indiz für eine „Demokratisierung“ des Terrors gewertet werden, da gewissermaßen die Exklusivität wegfällt. Galt es im Vorfeld vom 11. September noch als „Privileg, auserkoren zu sein“, um sein Leben im „Heiligen Krieg“ zu opfern, so wird gegenwärtig den Attentätern diese Zugangsbarriere genommen.

Durch das Internet wurde ein vereinfachter Zugang zu Informationen für jeden ermöglicht; auch für Islamisten als Proponenten einer politisch verqueren Gewaltideologie, die diese Kanäle gekonnt nutzen, um gezielt neue Attentäter zu rekrutieren, Zweifelnde anzustacheln oder zu Terroranschlägen aufzurufen.

Dadurch ist aufseiten der Täter eine kompetitive Eskalationsdynamik entstanden. Dieser Wettbewerb der Islamisten im Kampf um Aufmerksamkeit hat eine terroristische Gewaltspirale ausgelöst, die im Sinne einer Propaganda der Tat den Handlungsdruck verstärkt.

Terroristische Gewalt wirkt deshalb gegenwärtig omnipräsent. Durch die Häufung von Anschlägen im europäischen Umfeld wird die Unsicherheit weiter gefördert. Man fragt sich konsequent, wann und wo es das nächste Mal zu einer Terrorattacke kommen wird. In Österreich können wir nur hoffen, dass wir weiterhin verschont bleiben und die Sicherheitsbehörden gewissenhaft ihre Arbeit machen. Aber der islamistische Terror steht europaweit ante portas.

Dr. Nicolas Stockhammer forscht im Bereich Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt Terrorismusbekämpfung. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Polemologie und Rechtsethik (Uni Wien und Landesverteidigungsakademie).

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2017)

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