Als der ÖVP-Obmann auf Tauchstation war

Die Grundlage für sein Scheitern an der Spitze der Volkspartei hat Reinhold Mitterlehner letztlich selbst zu verantworten.

Seit dem Rücktritt von Reinhold Mitterlehner als Vizekanzler und ÖVP-Obmann haben sich in der Darstellung durch Politik und Medien zwei Hauptgründe für seinen Abgang herauskristallisiert: zum einen das Vorgehen des Koalitionspartners SPÖ, der – abgesehen von legitimen inhaltlichen Differenzen – angeblich mit Ultimaten, schlecht verhüllten Wahlkampfauftritten (Stichwort Plan A) und teils lächerlicher Inszenierung (Stichwort Pizzabote) die Regierungsarbeit torpediert haben soll.

Zum anderen die Aktionen einzelner ÖVP-Politiker, die ihrerseits Provokationen in Richtung SPÖ gesetzt hatten – mit der Absicht, damit zugleich auch Mitterlehners Position zu untergraben.

Je nach ihrer eigenen politischen Verortung stellen Kommentatoren und politische Akteure die destruktive Rolle von Bundeskanzler Christian Kern und seiner Partei beziehungsweise jene von Teilen der ÖVP in den Vordergrund. Und es finden sich auch Interpretationen, die ein aktives „Absägen“ des ÖVP-Obmanns gemäß einem lange vorbereiteten Plan und getrieben durch seinen machtgierigen Nachfolger unterstellen.

Staats- und Politikversagen

Dass dieser Nachfolger, Sebastian Kurz, dabei sogar mit Figuren wie Idi Amin oder Erdoğan verglichen wurde, lässt erahnen, mit welchen Tiefpunkten im kommenden Wahlkampf zu rechnen ist.

Aber gleichgültig, ob es letztlich die SPÖ oder eher Machinationen aus der ÖVP waren, die den Vizekanzler zum Rücktritt getrieben hatten, in Wahrheit brauchte es dafür keinen anderen „Schuldigen“ als Reinhold Mitterlehner selbst. Ein kurzer Blick auf seine Laufbahn als ÖVP-Obmann kann das bestätigen.

Als Mitterlehner im Herbst 2014 die Parteiführung übernahm, grundelte die ÖVP in der Sonntagsfrage bei Zustimmungswerten von 18 bis 20 Prozent. In der Folge gelang es dem neuen Mann offensichtlich glaubhaft den Eindruck zu vermitteln, dass die Regierungsarbeit nunmehr reibungsloser ablaufen werde. Im ersten Halbjahr 2015 rangierte die ÖVP wieder bei rund 24 Prozent, also etwa beim Wahlergebnis von 2013.

Vor allem aber lag die Partei annähernd gleichauf mit der schwächelnden SPÖ. Mitte 2015 wurde allerdings eine Entwicklung immer schwerer übersehbar, die schon monatelang zu spüren und seit noch längerer Zeit zu erwarten gewesen war. Die Rede ist von der bis heute andauernden „Flüchtlingskrise“, also der massenhaften Einreise von Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, Pakistan sowie Nord-, Zentral- und Ostafrika.

Allein bis zum Jahresende 2015 zog mehr als eine Million Menschen durch Österreich in Richtung Bundesrepublik Deutschland und Skandinavien, weitere etwa 100.000 verblieben in Österreich. Dieses Geschehen, zusätzlich angefeuert durch die Einladungspolitik der deutschen Bundeskanzlerin, hatte auch in Österreich zeitweiliges Staats- und Politikversagen zur Folge.

Die Außengrenzen wurden de facto nicht mehr gesichert und Einwanderer überschritten die Staatsgrenzen nach eigenem Gutdünken. Die damalige SPÖ-Spitze und die Grünpartei erklärten die ungehinderte Einreise und uneingeschränkte Nutzung des österreichischen Sozialsystems zu einer Art Menschenrecht.

Eine aktive Bevölkerungsminderheit, bestehend aus Hilfsorganisationen und aufrichtig humanitätsbewegten Freiwilligen, engagierte sich intensiv bei der Aufnahme und Versorgung der Ankömmlinge. Zugleich etablierte diese selbst ernannte Zivilgesellschaft mit tatkräftiger Unterstützung wichtiger Medien ein Meinungsklima des gutmenschlichen Imperativs. Jegliche Kritik an der Praxis der unkontrollierten Einreise lief Gefahr, wahlweise als Ausdruck irrationaler Ängste abgetan oder als Beweis für ruchlos rechte Gesinnung gebrandmarkt zu werden.

Merkwürdig positionslose ÖVP

Die ÖVP stand der Situation merkwürdig positionslos gegenüber. Ihr Parteiobmann Mitterlehner schien monatelang auf Tauchstation. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, die partei- und regierungsintern vor der kommenden Fluchtwelle gewarnt und vergeblich Vorbereitungen gefordert hatte, unterstützte er jedenfalls nicht.

Einzig die FPÖ sprach sich klar gegen die herrschende Praxis aus, was ihr auf Grundlage des Herkommens aus dem nationalliberalen Lager leicht fiel, zugleich aber den Proponenten der Willkommenskultur als weiteres Argument diente, jeden Kritiker sogleich ins rechte Eck zu stellen.

In dieser Atmosphäre pseudohumanitär unterfütterter Sprechverbote nahm ausgerechnet das jüngste Regierungsmitglied, Sebastian Kurz, das Wagnis auf sich, rational und faktenbasiert gegen die Politik der unkontrollierten Einreise zu argumentieren. Trotz erwartbar negativer, nicht selten auch untergriffiger Reaktionen blieb er bei seiner Linie.

Unruhe in der Bevölkerung

Öffentliche Unterstützung erhielt er in seiner Partei nur von der medial ebenfalls gehetzten Innenministerin. Im Spätherbst 2015 war jedoch die Unruhe in der österreichischen Bevölkerung selbst für die SPÖ- und ÖVP-Spitze nicht mehr zu übersehen. Vielmehr zeigte sich die Mehrheit der Österreicher immer weniger bereit, der manipulierten Erzählung Glauben zu schenken, wonach vornehmlich hoch qualifizierte Kriegsflüchtlinge, zumeist Familien, ins Land kamen und dies das Land selbstverständlich bereichern werde.

Anfang 2016 riss die ÖVP-Führung und nach einigen Windungen dann auch Kanzler Werner Faymann das Ruder herum. Eine noch immer hohe Obergrenze wurde postuliert und Außenminister Kurz erhielt die Vollmacht, die Balkanroute zu schließen. Diese nicht einfache Übung gelang.

Dennoch war der Schadensfall schon eingetreten. Jahr für Jahr werden mehrere Milliarden an Folgekosten für Integration, soziale Versorgung, Kriminalitätsbekämpfung etc. anfallen. Wobei dies im Vergleich zum absehbaren Aufbau islamischer Gegengesellschaften noch die geringere Gefahr für den sozialen Frieden und die Stabilität darstellt.

Auch für die Regierungsparteien war der Schaden immens. Die FPÖ, die schon im Herbst 2015 bei Umfragen die 30-Prozent-Grenze überschritten hatte, bewegte sich im Frühsommer 2016 in Richtung 35 Prozent, während die SPÖ zeitweilig auf Werte weit unter 25 Prozent abfiel. Am schlimmsten aber traf es die ÖVP. Sie sackte auf 18 Prozent herunter und erholte sich mit Mitterlehner als Führungsmann nur noch unwesentlich.

Unwilliger Platzhalter

Im Gegensatz dazu wiesen seit 2016 praktisch alle Erhebungen Sebastian Kurz als jenen Politiker mit den österreichweit höchsten Zustimmungswerten aus. Eine von ihm geführte ÖVP würde nicht bei 18, sondern bei bis zu 35 Prozent rangieren. Primär diese Tatsache machte Mitterlehner zu dem, was er nicht sein wollte: zum Platzhalter.

In diese Position aber hatte er sich selbst gebracht. Denn niemand hinderte ihn 2015 daran, in der Einwanderungskrise Führungsqualität zu zeigen.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Christoph H. Benedikter
(*1966 in St. Pölten ) studierte Handelswissenschaft, Geschichte sowie Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung mit den Schwerpunkten Zeitgeschichte und strategische Analyse sowie freier Ausstellungskurator. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2017)

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