Die europäische "Kunst des Deals"

Die USA und die EU lösen ihre sozialen, wirtschaftlichen und fiskalen Probleme auf sehr unterschiedliche Art.

Beinahe zehn Jahre nach der Finanzkrise von 2008 ist die Politik des Westens immer noch auf Konfrontation ausgerichtet. Obwohl sich die Vereinigten Staaten und die Europäische Union ähnlich sind, zeigt sich nun, dass sie soziale, wirtschaftliche und fiskale Probleme auf sehr unterschiedliche Art zu lösen versuchen.

Seit dem Überraschungswahlsieg von Präsident Donald Trump scheinen sich die USA und die EU mit zweifelhaften und dysfunktionalen Maßnahmen gegenseitig übertreffen zu wollen. Auf beiden Kontinenten gibt es eine Vielzahl von Akteuren, die den politischen Prozess sabotieren können. Trump erfährt dies gerade bei seinem Konfrontationskurs gegen den Kongress, die Gerichte und die Regierungen der Bundesstaaten. In Europa kollidieren die staatlichen Politiker immer wieder mit den Verfassungsgerichten und übernationalen Institutionen. Und jedes Mal, wenn in einem der 28 (und bald nur noch 27) Mitgliedstaaten der EU nationale – und sogar regionale – Wahlen stattfinden, fürchten sich die Europäer vor einem Ergebnis, das die Spaltungen noch verschärfen könnte.

Politische Uneinigkeit

Um diesen Zustand zu beenden, hat Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, vor einigen Wochen ein Weißbuch veröffentlicht, in dem fünf mögliche Vorgehensweisen dargestellt werden – von Tatenlosigkeit bis hin zu systematischen Reformen, um die europäische Integration ein für alle Mal zum Abschluss zu bringen. Auch die USA leiden unter massiver politischer Uneinigkeit, die einen Zerfall befürchten lässt.

Das Hauptproblem der beiden liegt nicht nur in falschen Nachrichten oder „alternativen Tatsachen“, obwohl die Debatten auf beiden Seiten des Atlantiks immer wieder von Fehlinformationen geprägt sind. Vielmehr ist die Politik selbst dysfunktional geworden. Beginnen die Bürger und Politiker, Politik als ein Nullsummenspiel zu sehen, hohe politische Risken einzugehen und zerstörerische Taktiken zu verfolgen, ist der Verfall nicht weit.

Sowohl in Europa als auch in Amerika sind die Debatten durch leere Posen und Muskelspiele bestimmt, mit denen die Politik in ein „Feiglingsspiel“ verwandelt wird. Bei einem solchen Spiel fahren zwei Autofahrer auf einen Abgrund (oder aufeinander) zu. Wer angesichts der unweigerlichen Katastrophe als erster ausweicht, verliert. Weicht aber keiner aus, gehen beide zugrunde.

In Europa haben manche Länder damit gedroht, für den Fall, dass ihre untragbaren Schulden von der europäischen Zentralbank und den anderen Regierungen nicht toleriert werden, aus der EU auszutreten. Und andere europäische Politiker drohen damit, gewisse Länder nicht mehr zu unterstützen, wenn sie keine Reformen durchführen. Bei diesem Spiel glaubt jede Seite, ihre Drohungen seien so schwerwiegend, dass die andere Seite ausweichen muss.

Auch die Trump-Regierung hat sich so verhalten – vor ihrem gescheiterten Versuch, den Affordable Care Act („Obamacare“) rückgängig zu machen und zu ersetzen. Sie hat den Kongress mit Taktiken unter Druck gesetzt, die mit denen in Europa fast identisch sind. Zuerst behauptete die Regierung, ein Konflikt sei nicht unbedingt schlecht, da gegensätzliche Meinungen unvermeidlich seien. Auch die EU musste sich zu Beginn der Eurozonenkrise 2010 über ihre Vielfalt sorgen und darüber nachdenken, wie die Unterschiede zwischen Nord und Süd oder zwischen dem Zentrum und der Peripherie ausgeglichen werden könnten.

Im weiteren Verlauf weigerte sich Trump allerdings, Alternativen zu nennen: Die „Debatte“ über die Krankenversicherung war von zwei Extremen geprägt: der Verabschiedung eines fragmentarischen Gesetzesentwurfs, mit dem niemand wirklich zufrieden war, oder der Alternative, einfach alles beim Alten zu lassen. Mit dieser „Alternativlosigkeit“ ähnelte Trumps Ansatz demjenigen der deutschen Kanzlerin, Angela Merkel, bei der Eurozonenkrise, als sie eine harte Linie fuhr, die keine Abweichung von der deutschen Position duldete.

Schließlich schien Trump völlig davon überzeugt zu sein, dass er den Kampf gewinnen und das Gesetz zur Abschaffung von Obamacare durchdrücken werde. Die Behauptung von Pressesprecher Spicer, „Das ziehen wir durch“, klang wie ein Echo des berühmten Merkel'schen Mantras zur Verteidigung ihrer Flüchtlingspolitik: „Wir schaffen das.“

Aber abgesehen von diesen rhetorischen Ähnlichkeiten unterscheidet sich der politische Ansatz Europas von dem der Trump-Regierung erheblich. Und es ist bezeichnend, dass Europa während der langen Durststrecke nach der Finanzkrise einen spektakulären Zusammenbruch verhindern konnte, wenn man das Brexit-Referendum außer Acht lässt.

Die europäischen Konflikte wurden immer wieder durch Kompromisse gelöst. Und obwohl Kritiker den internen Verhandlungsprozess der EU oft als übermäßig lang und ermüdend bezeichnen, hat er zweifellos positive Ergebnisse erzielt. Die Reformen zur Verbesserung der energiepolitischen Zusammenarbeit und zur Einführung einer Bankenunion haben sich als deutlich robuster herausgestellt, als es zuerst den Anschein hatte. Der Multilateralismus im europäischem Stil beruht darauf, bestehende Vereinbarungen immer wieder anzupassen, was das Gegenteil zu Trumps Unilateralismus darstellt.

Frustrierender Prozess

Die Grundlage einer verfassungskonformen Regierung besteht in einem Prozess des Verhandelns und Veränderns. Im Kern der US-amerikanischen Verfassung – die durch die Erfahrungen der amerikanischen Gründerväter mit der britisch-imperialen Einflussnahme geprägt ist – liegt der Glaube, dass viele Menschen, die auf Konsensbasis zusammenarbeiten, klüger sind als eine Person allein. Früher oder später wird Trump lernen müssen, dass Konsensfindung ein durch und durch frustrierender Prozess ist und dass die Lösungen, die durch politisches Verhandeln erzielt werden, normalerweise weder klar noch einfach sind.

Europa war schon in den 1950ern zu dieser Erkenntnis gelangt, als klar wurde, dass im Rahmen der europäischen Integration auch über den Schutz großer Bereiche nationaler politischer Autonomie verhandelt werden musste. Der Kontinent hat keinen eindeutigen politischen Führer, der allen anderen seine Vorstellungen aufdrücken könnte. Aber im Gegensatz zu Trump klingen Aussagen wie „Wir schaffen das“ bei europäischen Politikern realistischer, da sie die Notwendigkeit von Kompromissen verstanden haben.

2017 könnte Europa zwei weitere wichtige Lektionen lernen: Erstens, dass der Austritt eines Mitgliedslandes kein destruktiver Schachzug sein muss, weil er Spannungsquellen beseitigen und die Grundlage für künftige Verhandlungen legen kann. Zweitens ist Trumps dysfunktionale Regierung ein Modell dafür, wie man es nicht machen sollte, und die Wähler können diejenigen – wie Marine Le Pen – bestrafen, die einen ähnlichen Regierungsstil erahnen lassen.

Aus dem Englischen von H. Eckhoff.
Copyright: Project Syndicate, 2017.
www.project-syndicate.org.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Harold James
(* 1956 in Bedford) studierte in Cambridge Wirtschaftsgeschichte. Seit 1986 lehrt er als Professor in Princeton Geschichte und Internationale Politik und ist Senior Fellow am kanadischen Center for International Governance Innovation. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt erschien seine Studie „Making the European Monetary Union“. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2017)

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