Spiegelschrift

Der „Mantel der Geschichte“ und wer ihn fassen kann

Sternstunden. Der Tod von zwei Vorbild-Europäern erinnert uns daran, dass deren visionäre Entscheidungen unsere Zukunft sicherten.

Geschichte geschieht. Sie ist nicht immer planbar“, schreibt „Die Presse“ in dem Aufmacher „Der schwarze Riese“ (17. 6.) Aber wer greift in drangvollen Momenten ein? Das tun nicht die Wandervögel aus dem Gebüsch der jeweils neuesten Ideologien. Während nach dem Fall der Berliner Mauer von Deutschlands Linker noch Empfehlungen kamen, man solle die DDR durch eine Zweistaatenordnung retten, nützte Kohl dank seiner Grundsätze und bestens gepflegten Verbindungen in die USA und die Sowjetunion die einmalige Chance, die deutsche Einheit auf europäischer Basis herzustellen.

Ähnlich verstand es Außenminister Alois Mock, dessen persönliches Netzwerk bis in die damals noch kommunistischen Staaten Osteuropas und den Balkan reichten, Österreich aus dem Schatten sowjetischer Bevormundung in einem jahrelangen zähen Prozess in die Europäische Union zu führen. An den Särgen von Kohl und Mock sind sich heute fast alle einig: Sie haben Geschichte geschrieben.

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Während ich den „schwarzen Riesen“ lese, liege ich auf Grund physischer Reparaturmaßnahmen im Krankenbett, wenn auch schon im Rehabilitationsstadium, aber weiterhin bedeckt mit „Presse“-Doppelseiten. Mein Auge bleibt geschäftsmäßig an dem Satzteil hängen: „Das gilt für engste Mitstreiter – allen voran Wolfgang Schäuble, Kohls ehemaligem Kronprinz in der CDU.“ Da müsste es im erforderlichen vierten Fall gewiss „den Kronprinzen“ heißen. Offenbar bin ich aber in einer lebensgrüblerischen Phase und zweifle, ob ich das in meinen weit zurückliegenden aktiven „Presse“-Jahren auch schon so erkannt hätte.

Schließlich ist Kohls Ableben am Vortag erst um 16.35 Uhr bestätigt worden, und ca. zwei Stunden später wird der analytische und ausgefeilte Artikel schon in Druck gegangen sein. In derart hastigen Redaktionsstunden fällt der letzte Kontrollgang oft aus. Mein sprachkritischer Eifer wird somit durch die Einsicht gebremst, dass die Zeitung, ungeachtet solcher grammatikalischer Schnitzer, im Vergleich mit anderen Blättern doch eine konstante Qualität in Stil und Grammatik erreicht. Das zuzugeben, fällt mir nach einer erzwungenen Schaffenspause von mehreren Wochen nicht schwer. Der journalistische Alltag vollzieht sich dank seiner besonderen Rahmenbedingungen im geheimnisvollen Souterrain der Vollkommenheit.

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Die „Presse am Sonntag“ zieht am 18. 6. verdienstvoller Weise das Thema Kohl mit „Der ,ewige Kanzler‘ und seine Erbin“ in die nächste, von Angela Merkel getragene Politikergeneration weiter, und zwar in vollendet informativer Form. Anschauliche Nebenbemerkungen öffnen die Augen für menschliche Eigenheiten der beiden: „Kohls Strickjacke ist längst im Haus der Geschichte ausgestellt, Merkels Hosenanzüge werden dereinst dort ebenso als Objekte zu bewundern sein.“

Das Allerweltswort „Drama“ scheint für Kohls letzte Lebensjahre allerdings unpassend zu sein. Es handelte sich viel mehr um private Tragödien.

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So wie schon bisher wundere ich mich manchmal über neuartige, aber unbegründete Stilformen, etwa die Neigung, Haupt- und Nebensatz durch einen Punkt zu trennen und somit den logischen Zusammenhang zu unterbrechen. Musterbeispiel: „Der Wohnbaustadtrat soll sich jedenfalls ziemlich darüber geärgert haben. Dass Frauenberger, eine Vertreterin des linken Flügels, sich da medial gegen ihn ausspricht.“ (24. 5.) Der künstlich entstandene zweite Satz ist gar kein richtiger Satz.

Wie „tragfähig“ können Schulden sein? Eine rätselhafte Frage, es sei denn, man formuliert sie um: Wie lange erträgt Griechenland seine Schuldenlast? Im Untertitel steht jedoch: „Die übrigen Eurostaaten sind über die Tragfähigkeit seiner Schulden uneins.“ Kein Wunder also, wenn sie darüber streiten.

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Eine Überschrift fasst normalerweise die Kernaussagen des darauffolgenden Artikels zusammen. Ein Untertitel kann dabei aber mitunter für Verwirrung sorgen: „Die EU-Kommission will Anwälte und Steuerberater dazu verpflichten ,aggressive Steuerdeals‘ den Behörden zu melden, doch die laufen dagegen Sturm.“ Das hört sich an, als seien die Behörden Gegner dieser Pläne, was überhaupt nicht stimmt. Es sind die Anwälte, die sauer über den EU-Vorschlag sind, doch das rückbezügliche „sie“ erreicht diese nicht, sondern bezieht sich auf die nächstliegenden Behörden.

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Die Sprache der Juristen ist mitunter so kompliziert wie der zu behandelnde Kriminalfall. Die Zeitung spießt ein Satzungeheuer aus der endlosen Provisionsaffäre im Zusammenhang mit Exfinanzminister Karl-Heinz Grasser auf. Wie Recht sie hat. Sie tappt dabei leider in die Falle, selbst einen schwer verständlichen Schachtelsatz zu stricken: „In nur schwer lesbaren, teilweise über mehrere A4-Seiten reichenden Schachtelsätzen legt das OLG dar, was dafür spricht, dass auch Grasser bei Provisionszahlungen an die Lobbyisten Peter Hochegger und Walter Meischberger (er war Grassers bester Freund und ist dessen Trauzeuge) seine Hand aufhielt – bei Provisionszahlungen, die etwa beim Verkauf der Bundeswohnungen (Buwog) im Jahre 2004 flossen.“ (22. 4.)

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Wer die kümmerlich Eröffnung der diesjährigen Wiener Festwochen am Rathausplatz miterlebt oder bloß im Fernsehen verfolgt hat, kann einige Wochen später seine Enttäuschung mit der „Presse“ teilen: „Die Wiener Festwochen – ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit“, lautet der Titel eines geharnischten Leitartikels (19. 6.). Danke! Offenbar arbeiten die Kulturverkäufer daran, das Publikum zu vertreiben und eine kulturelle Bastion zu zerstören.

„Zu geringe Kinderbetreuung behindere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, kritisiert die OECD“ (8. 6.). Gemeint ist wohl „zu wenig Kinderbetreuung“.

Unnötige Füllwörter blähen Sätze auf und verschwenden Platz, so wie hier: „Das derzeit sich im Bau befindliche flexibelste Kraftwerk Deutschlands in Kiel“ ist so eine aufgeblasene Konstruktion (9. 6.). „Das in Bau befindliche flexibelste Kraftwerk“ hätte mit weniger Wörtern alles Nötige ausgedrückt.

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Die heimische Esche schwebt in Gefahr auszusterben. Rindernekrosen seien die Ursache (17. 6.). Was das Gehölz mit Rindern zu tun haben kann, geht aus dem Artikel nicht hervor. Eigentlich kann es sich nur um einen Druckfehler handeln. Gemeint ist wohl „Rindennekrose“.

Ab und zu vermag ein Tippfehler eine Sachlage zu verdeutlichen. „Im grellen Schweinwerferlicht des Wahlkampfs schmolz der Nimbus der britischen Premierministerin dahin“, ist im Leitartikel zu lesen (10. 6.).

DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründer und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

Spiegelschrift@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2017)

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