Verwirrung um Österreichs Staatsziele

Gastkommentar. Die Flughafen-Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ermahnt die Gerichte, sich an den engen Wortsinn der Gesetze zu halten. Wie sich zeigt, sind Staatsziele grundsätzlich ein problematisches Terrain.

Im Bundesverfassungsgesetz über den „umfassenden Umweltschutz“ wird dieser als die „Bewahrung der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schädlichen Einwirkungen“ definiert. Er besteht insbesondere „in Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm“. So weit so verständlich und naheliegend. Staatsziele haben eine ähnliche Funktion wie Grundrechte, aber anders als diese sind sie an die Gesetzgebung und Vollziehung gerichtet (Beispiel Schutz autochthoner Minderheiten in Art 8 Abs 2 B-VG) und enthalten keine subjektiven Rechte.

Offenkundig ist es aber auch so, dass im Rahmen der Vollziehung (Justiz, Verwaltung) Vorsicht mit der Heranziehung übergeordneter Verfassungsziele geboten ist. Im aktuellen Erkenntnis vom 29. Juni E 875, 886/2017, mit dem der Verfassungsgerichtshof (VfGH) eine den Bau einer dritten Start- und Landepiste in Schwechat im Effekt untersagende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) aufhebt, sieht das Höchstgericht einen schweren Vollziehungsfehler darin, dass das BVwG die „sonstigen öffentlichen Interessen“, die im Luftfahrtgesetz als Entscheidungsmaßstab angeführt werden, eigenständig im Sinne des Umwelt-BVG interpretiert hat; richtig wäre es gewesen, dabei nur jene Interessen zu berücksichtigen, die im Luftfahrtgesetz selbst angeführt sind bzw aus diesem (einfachen) Gesetz ableitbar sind.

Rechtslage gehäuft verkannt

Weiters habe sich das BVwG bei der Berechnung von Emissionen geirrt. Schließlich sei es auch unzutreffend, die Umweltziele der niederösterreichischen Landesverfassung einzubeziehen, weil dieses LVG nur regionale Bedeutung hat; alles in allem habe das BVwG die Rechtslage gehäuft verkannt und objektive Willkür geübt (ein im Verfassungsrecht gebräuchlicher Terminus für einen schweren Vollziehungsfehler).

Auch wenn die tragenden Gründe der Entscheidung in Wahrheit weniger den Inhalt als den Auslegungsmaßstab betreffen und daher „Business as usual“ im juristischen Kontext betreffen, fielen die Kommentare polemisch aus. Ebenso gut hätte das BVwG das Recht auf Glück in der Konstitution Bhutans zitieren können, las man in Benedikt Kommendas Kommentar.

Nun, „pursuit of happiness“ ist ein altes verfassungsrechtliches Thema, das bis 1776 zurück reicht und womöglich beansprucht, in den Kontext mit einer lebenswerten Umwelt gestellt zu werden. Wer beim Radfahren, Schwimmen oder beim ausgiebigen Laufen Glück verspürt, verdankt dies einer intakten Umwelt. Doch der VfGH mahnt ein, dass die Mittelinstanzen nicht selbst frei nach den grundlegenden Verfassungszielen agieren, sondern sich an den engeren Wortsinn der Gesetze, die sie vollziehen, halten sollen. Das ist undramatisch, denn der VfGH hat etwa in der Rechtfertigung von Höchstzahlen für Binnenschifffahrtskonzessionen selbst Umweltziele als öffentliche Interessen anerkannt und mit der Erwerbsfreiheit (richtig) abgewogen.

Noch vor der Verkündung der Entscheidung ist eine verfassungspolitische Diskussion über die Verankerung neuer Staatsziele in der Bundesverfassung angegangen. Ein Bekenntnis zum „Wirtschaftswachstum“ wurde eingemahnt, die Landeshauptleute machten Druck mit dieser nun undifferenziert, ja platt anmutenden Forderung. Staatsziele sind ein heikles Thema, das einer tiefer schürfenden Debatte bedarf. Auch im Frühsommer 1920 vor Beschlussfassung über das B-VG, das nicht einfach über den Leisten gebrochen, sondern erst nach sorgfältiger Beratung und Konsultation Hans Kelsens als Experten durch den zuständigen Unterausschuss den Abgeordneten im Plenum der konstituierenden Nationalversammlung vorgelegt wurde, war dies der Fall. Im Ergebnis kamen dann so gut wie keine Staatsziele heraus, jene, die wir kennen (zum Beispiel die umfassende Landesverteidigung in Art 9a B-VG), sind alle späteren Datums.

Wenig inhaltliche Vorgaben

Staatsziele sind grundsätzlich ein problematisches Terrain, weil das B-VG sich von seiner Grundkonzeption her auf „Spielregeln“ beschränkt und nur wenige inhaltliche Vorgaben enthält. Sinnvoller sind historische „Antworten“ wie das NS-Verbotsgesetz und die Verhinderung von Wiederbetätigung oder die im Staatsvertrag von Wien enthaltenen Gebote hinsichtlich Minderheitenschutz, Demokratie und Aufrechterhaltung des republikanischen Systems. Gleichberechtigung und Behindertenförderung, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Atom-BVG haben im Lauf der letzten Jahre die Bundesverfassung ergänzt.

Ob aber die Verfassung der geeignete Ort ist, ein ethisch erwünschtes Verhalten von Staatsorganen zu postulieren, kann angesichts der Mechanismen einer auf Organzuständigkeiten und Checks and balances sowie umfassende Rechtskontrolle abzielenden Konstitution fragwürdig sein. Vor allem aber bringen Staatsziele, wie auch die Entscheidungsdivergenzen rund um die dritte Piste zeigen, ein Bündel an Auslegungsfragen mit sich, in ihrem Verhältnis zu bestehenden Vorgaben, die ja nicht nur innerstaatlicher Natur sind, sondern auch völker- oder unionsrechtlichen Verpflichtungen folgen.

Auch hier kritisierte der VfGH übrigens, dass das BVwG sich an derartigen Vorgaben orientierte, statt an der innerstaatlichen Konkretisierung durch das Gesetz selbst; aber es muss hier eingewendet werden, dass verfassungs- und völkerrechtskonforme Interpretation überkommene Lösungsmuster (Paradigmata) auch im Verwaltungsrecht sind.

Unauffällig wegdiskutiert

Bestehende Staatsziele im Verfassungsrang werfen allerdings selbst Probleme bis hin zum Zielkonflikt und Normwiderspruch auf, der aber zumeist unauffällig wegdiskutiert oder im Sinn einer Staatsdoktrin pragmatisch übergangen wird. So gebietet das Neutralitäts-BVG 1955 die Nichteinmischung in bewaffnete Konflikte, das Staatsziel der umfassenden Landesverteidigung (Art 9a B-VG) kann allerdings eine andere, weniger konfliktscheue Wehrpolitik (zum Beispiel eine engere Nato-Kooperation) nahelegen, und die sogenannten „Petersberg“-Aufgaben, an denen Österreich laut Bundesverfassung (Art 23f B-VG) mitwirken soll, verlangen ein aktives wehrpolitisches Engagement.

Daher besteht auch die verbreitete Meinung, dass die fünf Jahrzehnte später als das Neutralitäts-BVG beschlossene Neuregelung das „alte“ Verfassungsgesetz partiell aufgehoben hat. Eine verfassungspolitische Debatte wäre auch hier erwünscht. Denn Solidarität und Neutralität sind letztlich gegenläufige Prinzipien, die nur selten miteinander in Einklang gebracht werden können.

Wer Staatsziele fordert, sollte vorher genau über die Folgen für die Auslegung im Einzelfall nachdenken.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Gerhard Strejcek
wurde 1963 geboren, studierte Rechtswissenschaften in Wien. Er ist am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht tätig. Die Schwerpunkte seiner Forschung sind öffentliches Wirtschaftsrecht, Demokratie und Wahlrecht, Grundrechte sowie Verfassungsgerichtsbarkeit. Seit 2005 leitet Strejcek das Projektzentrum für Glücksspielforschung an der Universität Wien. [ Parlamentsdirektion/Mike Ranz ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2017)

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