Gastkommentar

Mehr Polizei = mehr Sicherheit? Irrtum!

Es ist trügerisch, sich mehr Polizei für ein besseres Sicherheitsgefühl zu wünschen. Denn je mehr Polizei auf den Straßen, je mehr Tatütata – desto ängstlicher werden wir und desto aufgewühlter wirkt die Stadt.

Die Headlines sagen es uns derzeit wieder überdeutlich: Wir haben zu wenig Polizei! Es ist ziemlich in und immer eine fette Schlagzeile wert, nach mehr Polizei zu schreien. Und es ist sicher sehr unpopulär, diesen Chor mit einer Gegenstimme zu stören. Ich sage: Mehr Polizei produziert weder faktisch noch emotional mehr Sicherheit! Der Innenminister nutzt die Gunst der Stunde, denn die Bevölkerung ist angesichts der Schlagzeilen und der Flüchtlinge höchst besorgt um die allgemeine Sicherheit. Daher ist Aufstocken angesagt.

2000 Polizisten mehr seit 2009. Die rationale Frage wird ausgeblendet: Bringen fünf Prozent mehr Polizisten – und Polizistinnen wirklich 100 Prozent mehr Sicherheit. Und wenn nicht 100 Prozent – wie viel dann? Zehn Prozent, 20 Prozent? Und würde es dies objektiv gesehen – also rational und rein auf Fakten begründet – wirklich brauchen? Steigt die Zahl der Delikte? Bleibt sie gleich? Wer versorgt uns mit tauglichen Statistiken und korrekten Interpretationen?

Verschwiegene Fakten

Auch das Kuratorium für Verkehrssicherheit hat jahrelang nach mehr Kontrolle, mehr Vorschriften, mehr Rückbau, mehr Ausbau und mehr Investitionen gerufen – und dabei immer die Fakten verschwiegen, dass trotz des kontinuierlich massiv steigenden Verkehrsaufkommens die Unfälle und Todesfälle absolut und nicht nur relativ gesunken sind. Zwischen Fact News und FakeNews liegt oft nur das Verschweigen.

Brauchen wir also wirklich noch mehr Polizei? Wenn ja, wofür? Das Deliktaufkommen sinkt – und dies nicht nur wegen der Polizei, sondern wegen privater und öffentlicher elektronischer Überwachung, die im öffentlichen Raum wie eine Section Control wirkt. Die Delikte verschieben sich zu kleinen Einbrüchen und Diebstählen, zu häuslichen Gewaltorgien, zu elektronisch überwachbaren Verbrechen, aber nicht zu öffentlichem Aufruhr (wiewohl dieser manchmal gerechtfertigt wäre) und der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.

Die Erhöhung der Polizeipräsenz führt zuallererst einmal zur Erhöhung der „Produktion“ von Symbolen: mehr Polizei auf den Straßen (die ohnehin videoüberwacht sind), lautere und mehr Einsätze, damit die Bevölkerung sieht: „Hallo, wir sind da!“ Das führt zu mehr energischen Einschreitungen bei bloß kleineren verhaltensauffälligen Situationen.

Die kleinen Abweichungen brauchen keine derart brachiale Inszenierung. Die Polizei ist nicht mehr als Freund und Helfer beschäftigt. Sie hat nicht die Sicherheit der Bevölkerung als oberstes Handlungsziel, sondern die Kontrolle derselben. Diese Kontrollaufgabe bringt im öffentlichen Raum signifikant mehr Blaulicht, mehr Tatütata, mehr Amtshandlungen. Führt diese Entwicklung aber zur Beruhigung der Gesellschaft und zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl?

Inspektor gibt's keinen mehr

Die Kommunikation der allgegenwärtigen Gefahr ist lautstark. Sie macht unruhig und ängstlich, statt zu beruhigen und die Angst zu nehmen. Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben.

Früher gab es den Inspektor mit beschwichtigenden Worten, den Freund und Helfer. Dieser ist verschwunden. Viele kennen das Gefühl, wenn Polizei aktiv und aufgeregt wird. Da ist etwas im Gange, hier lauert Gefahr, hier geht's um Gewalt. Das wirkt beunruhigend. Nicht zuletzt deshalb, weil dieses Unbehagen nicht nur von den „Tätern“ ausgeht. Film- und Realszenen aus den USA zeigen uns deutlich, wie Polizeigewalt aussieht und wie sie verstörend auch auf uns Normalsterbliche wirkt.

Polizeihandlungen wirken bedrohlich – besonders dort, wo relativ harmlose Menschen und Vorfälle in einer brachialen „Unterwerfungsorgie“ beamtshandelt werden. Beispiele gefällig? Die Frau, die leicht angesäuselt – vielleicht unhöflich –, aber keineswegs gefährlich von sechs Polizisten am Silvesterabend am Franz Josefskai zu Boden geworfen und fixiert wurde. Sechs Polizisten?

Dürfte ein Einsatzzug sein, denn vor Kurzem in der U-Bahn-Station Schwedenplatz das ähnliche Bild. Ein – möglicherweise drogenbeeinträchtigter junger Mann wird laut. Laut darf man nicht sein, das darf nur das Folgetonhorn. Der junge Mann krakeelt herum, tut aber niemandem etwas. Die Polizei schreitet, nein stürmt im Sechserpack ein und fixiert ihn. Er wird gegen die Wand gedrückt und in klassischer Polizeimanier perlustriert (seltsames Wort!).

Unverhältnismäßige Gewalt

Dabei passieren zwei Dinge: Manche Passanten spüren, dass diese Gewaltanwendung unverhältnismäßig ist, und bleiben stehen. Sie werden von den Polizisten weggescheucht. Bis auf eine Frau, die die Szene beobachtet und fotografiert. Sie weist die Polizisten zurecht, dass sie wenigstens dem jungen Mann nicht vorsätzlich boshaft auf die Füße steigen sollen. „Das sicherste Mittel, einen Reflex der Polizei zu provozieren, besteht darin, den Anspruch der Polizei anzuzweifeln, eine Situation zu definieren“ (D. Graeber: „Bürokratie“, Klett-Cotta, 2016). Zu Deutsch: sich einzumischen oder blöd zu fragen – oder ein anderes „Deutungsschema“ zu einem Vorfall zu haben ist extrem gefährlich. Das geht nur, wenn man eine pädagogisch geschulte Frau um die 50 ist, die die Mutter der meist jungen Polizistinnen und Polizisten sein könnte.

Ein Radfahrer fährt ein kleines Stück gegen die Einbahn – Postgasse Wien, erster Bezirk. Er hat es eilig, aber blöderweise stehen zwei Polizisten und eine Polizistin unbeschäftigt in einer Einfahrt. Sie rufen: „Das geht nicht, hallo, bleiben Sie stehen!“ Der knapp 70-jährige (!) Mann ruft zurück: „Hab keine Zeit, hab's eilig!“ und radelt gemütlich davon. Aber die Polizisten sprinten dem ahnungslosen alten Mann nach – holen ihn ein und zwingen ihn, vom Rad zu steigen. Anzeige statt Strafmandat.

Bürokratische Macht

Gerade, dass es nicht um Widerstand gegen die Staatsgewalt geht. Das „Kanonen auf Spatzenschema“ wird noch so weit führen, dass wie in den USA die Prämisse gilt: „Zuerst schießen, dann fragen.“

„Der Einsatz des Polizeiknüppels ist jener Augenblick, in dem die bürokratische Gewalt angezweifelt wird. Entwickelte Intelligenz stellt die Fähigkeit dar, verschiedene Sichtweisen (oder auch Wahrnehmungen) miteinander zu koordinieren und sachlich einzuordnen. Bürokratische Macht wird in dem Augenblick, in dem sie in Gewalt umschlägt, zu einer Form infantiler Dummheit“ (Graeber).

Es ist trügerisch, sich mehr Polizei für ein besseres Sicherheitsgefühl zu wünschen. Dieser Wunsch geht nach hinten los. Je mehr Polizei auf den Straßen, je mehr Tatütata, desto unsicherer und aufgewühlter wirkt die Stadt, desto gefährlicher scheint das Leben, desto ängstlicher werden wir. Das führt dann genau in die falsche Richtung: zu noch mehr Polizei. Und diese muss natürlich noch mehr tun und verfolgt dann selbst die kleinste Flatulenz, die einem Menschen unbedacht entweicht.

DER AUTOR

Dr. Hans Bachmann (*1948, Spittal/Drau) studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien und in Sydney. Er arbeitete als Werbetexter, Coach, Berater und Lehrer. Unterrichtstätigkeit als Dozent an den Fachhochschulen Joanneum und Hagenberg. Themen: Kommunikation, Persönlichkeit, Kreativität.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2017)

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