Wie Migrationspolitik die EU-Staaten spaltet

Das Migrationsproblem in den Griff zu bekommen, wird mühsam, teuer und personalintensiv. Aber es ist durchaus lösbar.

Nach dem – durch die sommerliche Hitzewelle und dem angelaufenen Wahlkampf (Österreich) beziehungsweise politischem Profilierungsstreben (Italien) geschuldeten Übertreibungen – ausgelösten Krieg der Worte hat sich auch Bundeskanzler Christian Kern im „Presse“-Interview zu Wort gemeldet:

Er tat das ein wenig staatsmännisch beruhigend (keine Notlage an der Brenner-Grenze), ein wenig parteipolitisch (wir wollen doch nicht in einem Boot mit Viktor Orbán und der Lega Nord und anderen Populisten sitzen; Hilfestellung für den gebeutelten italienischen Ministerpräsidenten Gentiloni), und nicht zuletzt ausweichend, was den Kern der Auseinandersetzung betrifft: Man will ja keine schlafenden Hunde wecken, schon gar nicht in der bestenfalls oberflächlich befriedeten Wiener SPÖ.

Betrachten wir zunächst die italienische Seite. Österreichs südliches Nachbarland ist mit einem starken Anstieg der Migrantenzahlen über die Mittelmeerroute konfrontiert. Verschärft wird die Lage durch die Strategie diverser NGOs, Migranten vielfach knapp außerhalb bis innerhalb der libyschen Territorialgewässer von überladenen Schlauchbooten auf ihre Schiffe zu bringen und dann in italienischen Häfen auszuladen. Womit de facto eine Art „humanitärer Korridor“ geschaffen wurde – nur eben inoffiziell.

Überfordertes Italien

Italien ist mit dieser Situation zunehmend überfordert – auch deshalb, weil man weiter an der spezifischen Variante der „Willkommenspolitik“ (politica della accoglienza), festhalten möchte.

Die öffentliche Meinung ist gespalten: auf der einen Seite diverse linke Splitterparteien, besorgte „Intellektuelle“, viele speziell katholisch inspirierte Hilfsorganisationen und der Papst. Hier wird eine Begrenzung der Migration im Wesentlichen abgelehnt – nach dem Motto: Jede(r) Migrant(in) wird aufgenommen und betreut, sofern er/sie sich an die Gesetze hält. Nur, dass diese Betreuung oft nicht funktioniert und die Kontrolle der Einhaltung von Regeln bzw. Sanktionen bei deren Verletzung eher dem Bereich frommer Wünsche als dem strikter administrativer und juridischer Maßnahmen zuzuordnen sind.

Auf der anderen Seite die Rechtsparteien, aber immer häufiger auch überforderte Gemeindeverwaltungen und verdrossene Bürger. Die ursprünglich tendenziell migrantenfreundliche Haltung ist inzwischen gekippt, ablesbar aus Meinungsumfragen und persönlichen Gesprächen.

Ein „harter Indikator“ dafür sind die Ergebnisse der rezenten Kommunalwahlen, wo die regierenden Linksdemokraten gerade in größeren Städten und in früheren Hochburgen teils herbe Verluste hinnehmen mussten, den Zusammenhang zwischen Migrations- und Integrationsproblemen aber tunlichst unter den Teppich zu kehren versuchen. Nebenbemerkung: Das klingt irgendwie nach Österreich 2015/2016.

Als politisch inkorrekt gilt auch die Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten, weshalb gerade die Vertreter der accoglienza ziemlich pikiert auf die Aussagen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron reagiert haben, wonach 80 Prozent der Migranten aus wirtschaftlichen Gründen den Weg nach Europa suchen würden.

Zur weiteren Aufheizung der Stimmung hat auch der (bisher gescheiterte) Versuch der Linksdemokraten geführt, den Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft stark zu erleichtern („ius solis“, wenngleich in abgeminderter Form). Unabhängig davon, wie man dies prinzipiell bewertet, ist dies ein veritabler politischer Selbstmordversuch einer ohnehin intern zerstrittenen und im wahlpolitischen Abschwung befindlichen Partei.

Ruf nach Solidarität

Einig sind sich die Parteien im Ruf nach „europäischer Solidarität“, worunter freilich im Regelfall nur eine Aufteilung der Migranten auf alle EU-Länder verstanden wird.

Österreich hat sich (wie auch Deutschland und Schweden) inzwischen von der „Willkommenskultur“ verabschiedet, die sich in anderen EU-Ländern ohnehin nie besonderer Sympathie erfreut hat. Bundeskanzler Kern braucht vieles, nur kein Wiederaufflammen der Debatte in der eigenen Partei.

Sein primärer Herausforderer, Außenminister Sebastian Kurz, vertritt eine „harte“ Linie, die er gern ins Schaufenster stellt, wobei er manchmal etwas über die Stränge schlägt. Sollten freilich die italienischen Drohgebärden – siehe die ursprünglich dementierten, inzwischen aber offen diskutierten Vorschläge der Erteilung von 200.000 begrenzten Visa mit dem Ziel, den Migrantenstrom nach Norden weiterzuleiten – ernst gemeint sein, werden verschärfte beziehungsweise neue Grenzkontrollen schnell wieder auf der Tageordnung stehen. Und Kurz wird sich in guter Gesellschaft finden, beginnend mit Frankreich. Kern wird blitzschnell auf diesen Zug aufspringen; denn die Erinnerung an den Untergang Werner Faymanns ist noch recht frisch.

„Gute Ratschläge“ unnötig

Andererseits lässt sich die Bereitschaft zur Akzeptanz und die Glaubwürdigkeit der „harten Linie“ gerade im EU-Kontext noch verbessern. Es ist nicht notwendig, dass österreichische Minister in regelmäßigen Abständen öffentlich die Schließung vulgo Kontrolle der Brennergrenze ins Spiel bringen oder den italienischen Kollegen „gute Ratschläge“ erteilen.

Es reichen Hinweise, dass offene EU-Binnengrenzen nur möglich sind, wenn man die Außengrenzen halbwegs effizient kontrolliert, und dass jedes EU-Mitgliedsland seine Aufnahmepolitik selbst bestimmen kann, aber ohne Problemweiterleitung an andere.

Auch spricht nichts dagegen, dass die bereits vor Jahren vereinbarte Aufteilung früherer Asylanten auf alle EU-Länder umgesetzt wird (Stichworte „Pakttreue“). Nachsatz: aber nur als einmalige, nicht wiederkehrende Aktion.

Wichtiger sind aber eine koordinierte EU-Politik für Rückführungsabkommen mit den Herkunftsländern der Migranten (einzelne Länder besitzen dafür nicht die nötige Durchschlagskraft), die Bereitstellung entsprechender Transportkapazitäten, finanzielle Hilfen für Rückkehrer und eine gemeinschaftlich massiv verstärkte Sicherung der Außen-, sprich: Meeresgrenzen.

Schwierige Gesprächspartner

Alles in allem ist das eine teure, personalintensive (samt Militär und Polizei) und auch innenpolitisch konfliktträchtige Angelegenheit. Nicht nur, weil es zu unschönen Situationen kommen wird, sondern auch, weil die außereuropäischen Verhandlungspartner in der Regel nicht zu den rechtsstaatlichen Demokratien zählen. Bei entsprechendem Willen und Durchhaltevermögen aber kann es funktionieren.

Eine andere Sache sind Maßnahmen und Hilfen zur wirtschaftlichen Stabilisierung und Entwicklung der Herkunftsländer – gewiss richtig und notwendig. Nur handelt es sich da um Initiativen, die bestenfalls in Jahrzehnten Früchte tragen werden und die nicht einfach von „gutmeinenden Europäern“ verordnet werden können.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Peter A. Ulram
(* 1951 in Wien) war jahrzehntelang Meinungsforscher und Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Seit seiner Pensionierung ist er politischer Konsulent und Analytiker, der den privaten Lebensschwerpunkt nach Italien, in klimatisch angenehmere, aber politisch unerfreulichere Gefilde verlagert hat. [ Clemens Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2017)

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