Gastkommentar

Das Staatsarchiv als Opfer kakanischer Zustände

Wenn das Haus in der Nottendorfer Gasse adäquat funktionieren soll, muss es dem Zugriff der Politik entzogen werden.

Zweifellos, das Österreichische Staatsarchiv ist – berücksichtigt man die in ihm verwahrten Bestände – eines der bedeutendsten Archive Europas, wenn nicht der Welt, wie auch der Historiker Thomas Winkelbauer in seinem Gastkommentar vom 21. September festgestellt hat. Einzig die Strukturen, in die es eingebettet ist und unter denen es zu leiden hat, verhindern nachhaltig, dass es auch als eine der bedeutendsten Kulturinstitutionen des Landes international wahrgenommen wird.

Praktisch alle Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte wurden verschlafen oder zögerlich angegangen. Vielmehr wird das Staatsarchiv von der nationalen und internationalen wissenschaffenden Community als Relikt des 20. Jahrhunderts wahrgenommen. Woran kann das liegen? Es lassen sich im Wesentlichen drei Problemfelder ausmachen, an denen es krankt:
?Erstens: Das Österreichische Staatsarchiv ist eine untergeordnete Dienststelle des Bundeskanzleramts und wird von diesem, gelinde gesagt, nicht sehr prioritär behandelt. Vielmehr dient es seit vielen Jahren auch dem Zweck, Mitarbeiter vom Ballhausplatz wegzuloben.

Ausgebrannte Hofräte

Geht zum Beispiel ein Sektionschef in Pension, kann es schon sein, dass seine langjährige Abteilungsleiterin auf einen gutdotierten Posten ins Staatsarchiv verschoben wird – ob die Dame für ihre Aufgabe dort geeignet ist, interessiert höhernorts nicht. Solche Rochaden entziehen dem Haus die ohnehin zu knapp bemessenen Mittel. Geht es um die Bestellung eines Generaldirektors, haben professionelle Archivare mit besten Referenzen gegenüber parteipolitisch vernetzten Bewerbern das Nachsehen.

Leider ist nicht zu erwarten, dass sich das bei der nächsten Bestellung ändern wird, höchstens das politische Vorzeichen des Kandidaten. Auch die im Moment laut gegen das Archiv Stimmung machende FPÖ würde nur allzu gern einen aus ihren Reihen in die Chefetage hieven. Käme tatsächlich einmal ein Archivar und Fachmann in den Genuss einer Anstellung, kann er als Akademiker bestenfalls mit einer schlecht dotierten Hilfsstelle rechnen. Kein Wunder, dass junge fähige Leute dieses Haus schnell wieder verlassen. Wenn aber nur ausgebrannte pragmatisierte Hofräte an den Schalthebeln sitzen, wird kein Archiv der Welt zukunftsfit.

Devote Annäherung

? Zweitens: Ein Archiv erfüllt anders als Museen, Bibliotheken und vergleichbare staatliche Institutionen keinen unmittelbaren Bildungsauftrag, sondern es ermöglicht durch seine Bestände anderen Institutionen, ihrem Auftrag nachzukommen. Es hat vor allem der Verwaltung zu dienen. Aber keine Provenienzforschung, keine Ausstellung, keine bessere historische wissenschaftliche Publikation kann ohne funktionierenden Archiv gedeihen.

Archive sollten Dienstleister an der Gesellschaft sein – das Selbstverständnis des Staatsarchivs ist aber das einer kakanischen Behörde. Als „Einschreiter“ hat man sich devotest zu nähern. Völlig undurchschaubar ist das Bestellwesen, man ist dem Archivar oder dem Ausheber und deren Befindlichkeiten ausgeliefert.

Kaum jemand aus der wissenschaftlichen Welt traut sich deswegen, öffentlich Kritik an den Verhältnissen in der Nottendorfer Gasse zu üben – aus Sorge, in Zukunft eventuell benötigte Archivalien nicht mehr zu bekommen. Wie soll in so einer Atmosphäre Wissen gedeihen?
? Drittens: Das Staatsarchiv erhielt vor Jahren den Auftrag, selbstständig Mittel zu lukrieren. Seitdem ist die Benützung nicht mehr kostenlos, sondern man muss für den Zugang zahlen. Dass Beamte selten begnadete Kaufleute sind, sollte sich aber schon herumgesprochen haben.

Zum Beispiel wurde das systematische Beforschen der Adelsakten neuerdings durch ein Scanverbot gezielt verhindert. Offiziell werden „konservatorische Gründe“ vorgeschoben, tatsächlich erhofft man durch Scanaufträge der Genealogen (ein Bild wird mit 7 Euro berechnet) auf das große Geld. Der private Familienforscher mag ja noch zähneknirschend zahlen, aber dem wissenschaftlichen Bereich wird durch so eine Preisgestaltung ein ganzer Bestand verschlossen.

Professionelle Archivare

Seit 1. September ist wenigstens das private Fotografieren im Lesesaal erlaubt. Aber selbst hiezu wurde ein Erläuterungsblatt erlassen, durch das sehr deutlich wird, dass Benutzer seitens des Archivs offenbar als geistig minderbemittelt betrachtet werden.

Wenn dieses Haus wieder auf ein seinen Beständen adäquates Niveau gehoben werden soll, muss es zuerst dem Zugriff der Politik entzogen werden. Es müssen professionelle Archivare mit Personalhoheit die Möglichkeit bekommen, moderne Verhältnisse zu schaffen. Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist das schon gelungen, die Bedingungen in Erdberg sind aber sowohl für Benutzer wie auch das verbliebene Häuflein motivierter und hilfsbereiter Mitarbeiter untragbar.

Die Institution wurde über viele Jahre hinweg personell und materiell so weit ausgehungert, dass sie ihrem Auftrag nicht mehr nachkommen kann. Verglichen mit dem, was sonst so verschleudert wird, wären die für das Staatsarchiv aufzuwendenden Mittel gering. Der entstehende Mehrwert wäre aber enorm.

DER AUTOR

Dipl.-Ing. Georg Gaugusch (* 1974 Wien, ist seit 2005 geschäftsführender Gesellschafter des k. u. k. Hoflieferanten Wilhelm Jungmann & Neffe in Wien. Parallel forscht er über bürgerliche Eliten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zuletzt ist erschienen: „Wer einmal war – das jüdische Großbürgertum Wiens 1800 bis 1938“, Band L-R (Amalthea).

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2017)

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