Gastkommentar

Katalonien: Die Ohnmacht der stillen Mehrheit

Die Stimme von beinahe 60 Prozent der Katalanen bleibt ungehört.

Katalonien erlebt hoch emotionale Zeiten: Verhärtete Fronten bestimmen das mediale Geschehen. Einerseits friedlich gestimmte Katalanen, die auf ihr Selbstbestimmungsrecht pochen, andererseits eine gesichtslose spanische Polizei, die mit Gewalt ein Referendum verhindern wollte. Und ein König, der in seiner Ansprache mit keinem Wort knapp 900 Verletzte erwähnt. Wie konnte es so weit kommen?

Seit 1978 verfügt die autonome Region Katalonien über weitreichende Rechte, die in einem Autonomiestatut geregelt sind. Katalonien hat eine eigene Polizei, kann seine Bildungspolitik und sein Gesundheitswesen selbst bestimmen. Was fehlt, ist eine eigene Finanzverwaltung. Zu viele Steuern werden nach Madrid abgeführt, zu wenig erhalten die Katalanen zurück.

Das sorgt für Spannungen, gerade in Krisenzeiten. Und davon hatten Spanien und Katalonien in den vergangenen Jahren wahrlich genug – von der Immobilienblase bis zu Bankenpleiten. Dazu kommen zwei Regierungen, die in ihrer Wortwahl immer radikaler wurden, um ihre Wähler zu halten. So wurden separatistische Tendenzen salonfähig, Nationalisten übernahmen das politische Ruder.

Erinnerung an das Jahr 1714

Letztere haben dafür gesorgt, dass an allen Schulen auf Katalanisch unterrichtet wird. Förderungen gibt es vor allem für Projekte, die der katalanischen Kultur dienen. Es gibt Boykottaufrufe für spanische Produkte. Bei jedem Barcelona-Spiel wird nach 17 Minuten und 14 Sekunden „Independencia!“ gerufen, in Erinnerung an das traumatische Jahr 1714, als Katalonien seine Autonomie verlor und ins spanische Königreich eingegliedert wurde.

Immer mehr Balkone sind mit der Estelada, der Flagge für ein unabhängiges Katalonien, geschmückt. Aber noch mehr Balkone bleiben leer. Sie stehen für die stille Mehrheit, die sich nicht vom Nationalismus vereinnahmen lassen will. Es sind Menschen, die wissen, dass Madrid korrupt ist, aber Barcelona ebenso; die von Politikern keine nationalistische Symbolpolitik, sondern Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit fordern; die von Madrid mehr Geld wollen, ohne den Solidaritätsgedanken zu opfern. Diese stille Mehrheit hat sich am 1. Oktober gegen die Teilnahme an einem Referendum entschieden.

Ein Match, das nicht enden will

Was dann am 1. Oktober geschah, ist durch nichts zu rechtfertigen. Das Krisenmanagement in Madrid hat nicht nur versagt, es hat erst recht zur Eskalation geführt. Sie ist der Höhepunkt einer langen Liste von Versäumnissen und Provokationen vonseiten Madrids, vor allem der Volkspartei. So klagte sie gegen ein bereits mühsam ausverhandeltes – und sowohl vom katalanischen als auch spanischen Parlament beschlossenes – neues Autonomiestatut.

Barcelona und Madrid liefern sich seit Jahrzehnten ein nicht enden wollendes Match. Und der Nationalismus liefert die dafür notwendigen Zutaten. In diesen Tagen ist das Match zu einer Schlacht geworden. Es ist höchste Zeit, dass mehr Sachlichkeit und Respekt statt Emotionen und Leichtsinn die Politik bestimmen.

Als Tochter einer Katalanin liebe ich dieses Land, seine Menschen, die Kultur. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich „Castells“ sehe, die typischen katalanischen Menschentürme, oder wenn der FC Barcelona sensationelle Tore schießt. Aber genauso groß ist meine Euphorie, wenn in Andalusien Flamenco getanzt und Spanien Fußballweltmeister wird. Ich wünsche mir, dass es so bleibt.

Vanessa Salzer, in Wien geboren, ist PR-Beraterin bei Ecker & Partner. Studium der Politikwissenschaft an mehreren Unis, u. a.
an der Johns Hopkins University in Bologna. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über den katalanischen Nationalismus.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2017)

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