Gastkommentar

Kosovo, jetzt Katalonien – und dann Schottland?

Für die Sezessionsbewegungen in verschiedenen Ländern Europas gibt es höchst unterschiedliche Voraussetzungen.

Angesichts der Ereignisse in Spanien stellt sich die Frage, weshalb die diversen Unabhängigkeitsbemühungen in Europa unterschiedlich bewertet werden. Das Völkerrecht verfügt wegen des Widerspruchs zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Prinzip der territorialen Integrität der Staaten über keine Norm, die ein Sezessionsrecht ausdrücklich bejahen oder verbieten würde.

Es muss daher jeder Fall nach seinen eigenen Meriten beurteilt werden, wobei von einem Sezessionsrecht dann ausgegangen werden kann, wenn eine Minderheit vom eigenen Staat fundamental diskriminiert wird.
Der Kosovo hatte in Jugoslawien den doppelten Status einer autonomen Provinz Serbiens und einer Entität der jugoslawischen Föderation mit ähnlichen Rechten wie die sechs Teilrepubliken. Der föderale Status ging mit der Auflösung Jugoslawiens verloren, die weitgehende Autonomie wurde 1989 abgeschafft.

Als Reaktion führte die kosovarische (kosovoalbanische) Mehrheitsbevölkerung im September 1991 ein Unabhängigkeitsreferendum durch, das bei einer Wahlbeteiligung von 87 Prozent mit einem positiven Votum von 99 Prozent endete. Die serbische Minderheit und die Regierung in Belgrad lehnten das Referendum ab. In der Folge kam es zur massiven Unterdrückung der Kosovaren und nach Jahren des friedlichen Widerstands zum bewaffneten Kampf gegen die serbische Oberhoheit.

Militärische Intervention

Dies führte 1998/99 zu einer Militäroperation Serbiens, in deren Verlauf 800.000 Kosovaren flüchteten. Um die Vertreibung der Kosovaren zu beenden, entschloss sich die Staatengemeinschaft 1999 zur militärischen Intervention. Die Verwaltung des Kosovo wurde einer internationalen Zivilmission übertragen, für die Sicherheit sorgte eine Militärmission (KFOR). 2006 begannen unter Ägide der UNO in Wien Verhandlungen über den endgültigen Status des Kosovo, und auf der Basis des Lösungsvorschlags des UNO-Sonderbeauftragten Ahtisaari erklärte Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit. Serbien lehnte die Unabhängigkeitserklärung ab, während der über Initiative Belgrads befasste Internationale Gerichtshof sie als nicht völkerrechtswidrig beurteilte.

Kein Auftrag zur Abspaltung

Keiner dieser Umstände trifft auf Katalonien zu. Mit ihrer eigenen Sprache, Identität und Geschichte gehört die Region zu den „historischen Gemeinschaften“ Spaniens, sie ist wirtschaftlich hoch entwickelt und verfügt über eine umfassende Autonomie in Gesetzgebung und Verwaltung.

Wenn trotzdem von Teilen der katalanischen Gesellschaft die Unabhängigkeit gefordert wird, dürfte dies einerseits auf die hohen Transferzahlungen an den spanischen Staat, ein ausgeprägtes katalanisches Nationalbewusstsein und ein diffuses Gefühl zurückzuführen sein, von Madrid nicht mit dem nötigen Respekt behandelt zu werden.

Meinungsumfragen zufolge unterstützen rund 40 Prozent der Katalanen die Abspaltung von Spanien. Dies entspricht auch dem Ergebnis des Referendums vom 1. September, in dem bei einer Wahlbeteiligung von 42,5 Prozent die Ja-Stimmen 90,9 Prozent ausmachten. Dies bedeutet ein positives Votum von 37,8 Prozent aller Stimmberechtigten.

Wegen der chaotischen Umstände, unter denen das Referendum stattfand und des brutalen Vorgehens der spanischen Polizei können aber schwerlich verlässliche Schlüsse über die Haltung der Katalanen gezogen werden. Es kann aber auch kein Auftrag für eine unilaterale Abspaltung mit katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Folgen für die Region abgeleitet werden.

Nun wäre es notwendig, dass auf beiden Seiten eine Deeskalation der Emotionen stattfindet. Die Führung Kataloniens muss zur Kenntnis nehmen, dass für eine legale Sezession eine Änderung der spanischen Verfassung notwendig wäre, die aber nur durch Beschluss des Parlaments in Madrid und eine Volksabstimmung in ganz Spanien herbeigeführt werden kann.

Die spanische Regierung, die bisher jegliche Sensibilität für die Anliegen Kataloniens vermissen ließ, darf das Problem nicht der Justiz und Polizei überlassen, sondern muss sich um eine politische Lösung bemühen. Sie sollte den Regionen einen umfassenden Vorschlag für eine Staatsreform im föderalen Sinn machen und damit den Abspaltungstendenzen den Wind aus den Segeln nehmen. Die EU schließlich sollte ihre Zurückhaltung aufgeben und beiden Seiten bei der Aufnahme eines Dialogs behilflich sein.

Kommt ein neuer Anlauf?

Schottland ist ebenfalls Teil eines demokratischen Rechtsstaates und EU-Mitgliedslandes. Es verfügt über ein hohes Ausmaß an Autonomie, trotzdem unterstützt auch dort ein Teil der Bevölkerung die Unabhängigkeit. Allerdings konnte in Schottland aufgrund einer Vereinbarung mit der britischen Regierung 2014 ein Referendum abgehalten werden, in dem sich bei hoher Wahlbeteiligung rund 55 Prozent gegen die Unabhängigkeit aussprachen.

Derzeit liegt die Frage angesichts der Brexit-Entscheidung auf Eis. Es wird wohl von den Austrittsbedingungen Großbritanniens aus der EU abhängen, ob die Befürworter einer Unabhängigkeit Schottlands einen neuen Anlauf nehmen werden.

DER AUTOR

Albert Rohan (geb. 1936 in Melk) studierte Rechtswissenschaften in Wien und hatte Spitzenposten im österreichischen diplomatischen Dienst inne; zuletzt war er Generalsekretär des Außenamts. 2005 wurde er von der UNO als Sonderbeauftragter eingesetzt, um im Konflikt um den künftigen Status des Kosovo zu vermitteln.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2017)

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