Selbstbestimmung: Das Wer, Wo, Wann der Abspaltung

Die Kurden im Nordirak wollen ihren eigenen Staat, die Katalanen auch. Historische Beispiele sind nicht gerade ermutigend.

Ende September stimmten die Kurden im Nordirak mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit der Region Kurdistan. Angesichts der etwa 30 Millionen Kurden, die auf vier Staaten verteilt leben (Irak, Türkei, Syrien und Iran), meinen Nationalisten, den Kurden stehe die Anerkennung durch die Welt zu. In Spanien werfen etwa 7,5 Millionen Katalanen die gleiche Thematik auf.

Ist es von Bedeutung, dass sich – laut Umfragen – in Katalonien, anders als in Kurdistan, Gegner und Befürworter der Unabhängigkeit fast die Waage halten? Ist es von Bedeutung, dass Bagdad und womöglich auch noch die Nachbarstaaten von Irakisch-Kurdistan Gewalt anwenden, um die Abspaltung zu verhindern?

Das von US-Präsident Woodrow Wilson 1918 auf die internationale Agenda gesetzte Prinzip der nationalen Selbstbestimmung wird im Allgemeinen als das Recht eines Volkes definiert, seinen eigenen Staat zu bilden. Aber wer ist dieses „Selbst“, das hier bestimmt?

Man denke an Somalia, dessen Einwohner ungefähr über den gleichen sprachlichen und ethnischen Hintergrund verfügten. Das angrenzende Kenia wurde während der Kolonialherrschaft aus Dutzenden Völkern und Stämmen gebildet. Somalia forderte, das Prinzip der Selbstbestimmung sollte es den Somalis im Nordosten Kenias und im Süden Äthiopiens erlauben, sich abzuspalten. Kenia und Äthiopien verweigerten sich dieser Forderung, das führte zu einer Reihe regionaler Kriege.

Bewertung der Interessen

Die Ironie des Nachspiels bestand darin, dass Somalia später selbst in einem Krieg zwischen Stämmen und Kriegsherren zerfiel. Heute existiert die Region im Norden unter dem Namen Somaliland de facto als unabhängiger Staat, obwohl er international nicht anerkannt wird und auch nicht Mitglied der Vereinten Nationen ist. Auch Abstimmungen lösen das Problem der Selbstbestimmung nicht in allen Fällen. Außerdem ist es auch eine Frage des Zeitpunkts, also wann abgestimmt wird. In den 1960er-Jahren wollten die Somalis sofort abstimmen; Kenia wollte damit 40 oder 50 Jahre warten, um in dieser Zeit Stammesloyalitäten neu zu gestalten und eine kenianische Identität zu stiften.

Ein weiteres Problem besteht darin, wie die Interessen derjenigen zu bewerten sind, die weiterhin im ursprünglichen Land leben wollen. Erleiden sie durch eine Abspaltung Schaden, weil Ressourcen verloren gehen oder es zu anderen Brüchen kommt? In Irakisch-Kurdistan gibt es beträchtliche Ölvorkommen, und auf Katalonien entfällt geschätzt ein Fünftel des spanischen Bruttoinlandsproduktes.

Beispiele aus der Geschichte sind nicht ermutigend. Nach der Auflösung des Habsburgerreiches im Jahr 1918 wurde das Sudetenland in die Tschechoslowakei eingegliedert, obwohl der größte Teil der Bevölkerung deutschsprachig war. Nach dem in München 1938 mit Adolf Hitler geschlossenem Abkommen spalteten sich die Sudetendeutschen von der Tschechoslowakei ab und schlossen sich an Deutschland an.

Doch der Verlust der gebirgigen Grenzregion, in der diese Menschen lebten, bedeutete einen entsetzlichen Rückschlag für die tschechischen Verteidigungskräfte. War es richtig, den Sudetendeutschen Selbstbestimmung zu gewähren, auch wenn das hieß, der Tschechoslowakei (die von Deutschland sechs Monate danach zerschlagen wurde) ihre militärischen Verteidigungsmöglichkeiten zu entziehen?

Ein weiteres Beispiel aus Afrika: Als sich die Menschen in Ostnigeria in den 1960er-Jahren für eine Abspaltung und die Bildung des Staates Biafra entschieden, leisteten andere Nigerianer teilweise deshalb Widerstand, weil in Biafra der größte Teil der nigerianischen Ölvorkommen lagerte. Sie argumentierten, das Öl sei Eigentum aller Einwohner von Nigeria und nicht nur der Bevölkerung in den östlichen Landesteilen.

Vom Kaukasus bis zum Balkan

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde Selbstbestimmung in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion zu einem brandaktuellen Thema. Im Kaukasus forderten Aserbaidschaner, Armenier, Georgier, Abchasier und Tschetschenen eigene Staaten.

In Jugoslawien gelang es Slowenen, Serben und Kroaten, unabhängige Republiken zu bilden. Doch die Muslime in Bosnien und Herzegowina waren weniger erfolgreich. Sie wurden zur Zielscheibe „ethnischer Säuberungen“ durch kroatische und serbische Kräfte. 1995 wurde eine Friedenstruppe der Nato in die betroffenen Gebiete entsandt, aber als die Nato 1999 im Kosovo militärisch intervenierte, unterstützte Russland den serbischen Widerstand gegen eine Abspaltung, und der Kosovo ist nach wie vor nicht Mitglied der UNO. Umgekehrt berief sich Moskau auf Selbstbestimmung, um 2008 Abchasiens Abspaltung von Georgien zu unterstützen und 2014 die russische Invasion und Annexion der Krim zu begründen.

Ein mehrdeutiges Prinzip

Bei Selbstbestimmung handelt es sich offenbar um ein mehrdeutiges moralisches Prinzip. Wilson glaubte, damit Stabilität nach Mitteleuropa zu bringen; Hitler allerdings bediente sich dieses Prinzips, um in den 1930er-Jahren die neuen, fragilen Staaten der Region zu untergraben.

Diese Lehren gelten auch heute. In Anbetracht der Tatsache, dass weniger als zehn Prozent aller Staaten weltweit homogene Bevölkerungsstrukturen aufweisen, könnte die Bewertung der Selbstbestimmung als primäres und nicht als sekundäres moralisches Prinzip in vielen Teilen der Welt verheerende Folgen haben.

Tatsächlich ähnelt die Besiedelung von Landesteilen durch einander feindlich gesinnte ethnische Gruppen oftmals eher einem Marmorkuchen als einem fein säuberlich angeordneten Schichtkuchen. Das macht die Aufteilung auch so schwierig. Vielleicht ist das der Grund, warum in diesem Jahrhundert nur noch wenige neue Staaten in die Vereinten Nationen aufgenommen wurden.

Beispiele Schweiz und Belgien

Die beste Hoffnung für die Zukunft besteht darin, zu fragen, was bestimmt werden soll und wer es bestimmt. Wo es Gruppen schwerfällt, gemeinsam in einem Staat zu leben, könnte es möglich sein, einen gewissen Grad an Autonomie zur Bestimmung innerer Angelegenheiten zuzulassen. Die Schweiz oder Belgien etwa bieten ihren jeweiligen Volksgruppen beträchtliche kulturelle, wirtschaftliche und politische Autonomie.

Wo Autonomie nicht reicht, ist es vielleicht möglich, für eine freundschaftliche Scheidung zu sorgen, wie es die Tschechoslowakei 1983 vormachte. Absolute Forderungen nach Selbstbestimmung sind aber eher dazu angetan, in Gewalt auszuarten. Bevor man sich auf die Selbstbestimmung als moralisches Prinzip beruft, muss man die diplomatische Version des Hippokratischen Eides befolgen: Primum non nocere (Zunächst einmal keinen Schaden zufügen).

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

DER AUTOR

Copyright: Project Syndicate, 2017.

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Joseph S. Nye (*1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–1994) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–1995).
Er gilt als außenpolitischer Vordenker und prägte das Konzept der „weichen/harten Macht“. Zahlreiche Publikationen; sein jüngstes Buch: „Is the American Century Over?“ [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2017)

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