Die 30.000 Vollidioten Deutschlands

Karl Lueger ist am Mittwoch vor 100 Jahren gestorben. Er hatte das Unglück, kein Sozialdemokrat gewesen zu sein.

Seit Jahren betreibt eine medial gut vernetzte Clique eine Kampagne zur Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings. Die eindimensionale Argumentation reduziert den wohl bedeutendsten Bürgermeister Wiens auf seinen Antisemitismus und blendet die kommunalen Leistungen dieses wahrhaft visionären Politikers praktisch aus. Zuletzt wurde anlässlich des Todes von Helmut Zilk die originelle Idee ventiliert, den Lueger-Ring in Dr.-Helmut-Zilk-Ring umzubenennen.

Es war zu erwarten, dass diese Kampagne anlässlich des 100.Todestages von Karl Lueger an Dynamik gewinnen würde, und man wurde nicht enttäuscht. Ein „Arbeitskreis zur Umgestaltung des Lueger-Denkmals“ ist der Meinung, dass die „Ehre, welche Altbürgermeister Lueger durch das Denkmal und durch ein Teilstück der Ringstraße mit seinem Namen in Wien zuteilwird, nicht mehr hingenommen werden darf“. Die Proponenten beklagen zwar einerseits den „unreflektierten Umgang mit Geschichte“, bezeichnen allerdings das Lueger-Denkmal selbst als „Monument für Antisemitismus und seine Verharmlosung“. Das ist ein interessanter intellektueller Widerspruch, der den Verfassern des Aufrufs offensichtlich nicht aufgefallen ist, die aber dankenswerterweise nicht den Abriss des Lueger-Denkmals verlangen, sondern nur eine Umgestaltung in ein „Mahnmal gegen Antisemitismus und Rassismus“.

Ikonen der Linken

Es ist nicht nur eine grobe wissenschaftliche Verkürzung, den Antisemitismus eines Lueger mit dem Antisemitismus und der Vernichtungspolitik der Nazis gleichzusetzen, es wäre auch seriöserweise geboten, Personen und Ereignisse aus ihrer Zeit und dem jeweiligen Umfeld heraus zu bewerten. Aber das ficht die Agitatoren nicht an, denn sie haben eine Agenda, und die gilt es durchzuziehen. Da kann man auf Feinheiten wie historische Korrektheit oder Verhältnismäßigkeit der Tatbestände nicht Rücksicht nehmen. Ähnlich wie etwa Bruno Kreisky, der die Vernichtungslager des Dritten Reiches den Anhaltelagern des Ständestaates gegenüberstellte, was etwa P.M. Lingens neulich im „Profil“ zu Recht scharf kritisierte.

Das Interessante ist nur, dass diese Pseudohistoriker bei Ikonen der linken Bewegung viel rücksichtsvoller und vergesslicher sind als etwa bei Karl Renner oder Julius Tandler. Es ist ja kein Geheimnis, dass Karl Renner den Weg Österreichs als „20-jährigen Irrweg“ bezeichnet hatte und 1938 freudig mit „Ja“ zum Anschluss an Hitler-Deutschland stimmte. Weniger bekannt sind Aussagen und Ansichten eines der bedeutendsten Wiener Sozial- und Gesundheitspolitiker.

So meinte Julius Tandler etwa in einem Vortrag am 24.März 1916 (zitiert nach Karl Sablik, Julius Tandler, Wien 1983) über „Krieg und Bevölkerung“: „Der Krieg hat durch die großen Truppenumzüge sowie durch die Diaspora der Flüchtlinge auch eine weitgehende Rassenmischung zur Folge. Wir wollen nicht darüber rechten, ob Reinzucht auch beim Menschen ein für die Rassentüchtigkeit besonders wichtiges Element ist oder nicht, eines aber kann man bei dieser Art der Rassenmischung wohl sagen, dass sie in einem hohen Prozentsatz aller Fälle wohl nicht die glücklichste war.“ (...)

„Man stellt allerorten Invalide zur Arbeit an, man bemüht sich, die Arbeit für sie zuzurichten und dergleichen, doch vergessen wir nicht, der Kampf ums Dasein ist nicht aufgebaut auf Mitleid und karitative Tätigkeit, sondern ist ein Kampf, in welchem der Stärkere und Tüchtigere schon im Interesse der Erhaltung der Art siegen muss und siegen soll.“ (...)

„Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass gerade durch den Umstand, dass so viel Untüchtige, also Minusvarianten, infolge des Krieges zur Reproduktion kommen, die Gefahr der Vermehrung dieser Minusvarianten für die nächste Generation größer ist als für die heutige und dass damit die nächste Generation noch mehr bemüßigt sein wird, diese Minusvarianten zu erhalten und zu stützen. So grausam es klingen mag, muss es doch gesagt werden, dass die kontinuierlich immer mehr steigende Unterstützung dieser Minusvarianten menschenökonomisch unrichtig und rassenhygienisch falsch ist. (...)

Können wir schon in der Reproduktion nicht qualitativ vorgehen, so sollen wir uns wenigstens bemühen, in der Aufzucht die Qualitäten zu fördern.“

Und 1924 formulierte Julius Tandler unmissverständlich: „Welchen Aufwand übrigens die Staaten für vollkommen lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, dass 30.000 Vollidioten Deutschlands diesen Staat zwei Millionen Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens im Interesse der Erhaltung lebenswerten Lebens an Aktualität und Bedeutung.“ Tandler hoffte, dass „die Idee, dass man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr ins Volksbewusstsein dringen wird“. Und er sollte recht behalten: Die Ideen sind ins Volksbewusstsein eingedrungen, mit schrecklichen Konsequenzen im Dritten Reich.

Dennoch hat noch keiner der Aktivisten, die Karl Lueger gerne als Wegbereiter Adolf Hitlers bezeichnen, Julius Tandler als Wegbereiter der Rassenhygiene und „Euthanasie im NS-Staat“ bezeichnet. Es hat auch keiner der besorgten Aktionisten die Umbenennung des Julius-Tandler-Platzes verlangt oder eine Abschaffung der Julius-Tandler-Medaille gefordert, die noch heute von der Stadt Wien vergeben wird.

Karl Lueger hatte das Unglück, kein Sozialdemokrat gewesen zu sein, denn dann wären seine Verirrungen heute vergeben und vergessen.

Dr. Herbert Kaspar ist Herausgeber der „Academia“, der Zeitschrift des Österreichischen Cartellverbandes (ÖCV).


meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2010)

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