Es braucht einen „New Deal“ für Europa

...und keine Sparpolitik.

These: Nur wenn die Besitzer der (großen) Finanzvermögen spürbare Beiträge zur Konsolidierung der Staatsfinanzen leisten, können sie eine massive Entwertung ihrer Vermögen verhindern. Unter finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen werden nämlich systematisch Finanzforderungen aufgebaut, die nicht hinreichend gedeckt sind:

VarianteI bestand in der Bildung von „fiktivem Kapital“ durch Aktienbooms. Dies musste zu Kursstürzen und damit Entwertungen führen.

VarianteII: Gegenüber Immobilieninvestoren wurden Finanzforderungen aufgebaut, deren fiktive Deckung wurde mit dem Fall der Hauspreise offenbar – dies löste die Krise aus.

VarianteIII bestand in der Verschuldung des Staates zur Rettung des Finanzsektors. Die „Reichen an Geld“ waren erleichtert, allerdings wurde das Problem der „faulen“ Assets nur auf eine höhere Ebene verschoben.

VarianteIV: Das Gleiche gilt für die Rettung einzelner Euroländer durch den neuen 750–Mrd.-Euro-Fonds der gesamten EU.

Zwar ist es richtig, wenn in einer solchen Krise die Notenbank die Staaten finanziert. Auch sollte zusätzlich das Zinsniveau begrenzt werden. Freilich: Langfristig kann das Problem der Staatsverschuldung so nicht gelöst werden. Dazu muss man seinen systemischen Charakter begreifen.

Zinssatz über Wachstumsrate

Seit den 1970er-Jahren hat sich das Gewinnstreben von real- zu finanzwirtschaftlichen Aktivitäten verlagert, bei instabilen Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktienkursen und Zinssätzen senkten die Unternehmen ihre Realinvestitionen und damit ihr Finanzierungsdefizit. Die privaten Haushalte sparten aber fleißig weiter, ihr Überschuss blieb hoch. Damit musste der Staat langfristig ein höheres Defizit „erleiden“ (durch höhere Arbeitslosigkeit und geringere Steuereinnahmen) – die Summe aller Salden ist ja null. Einzelnen Ländern wie Deutschland mag es gelingen, einen Teil des Problems ins Ausland (den vierten Sektor) zu verschieben, indem sie selbst einen (Leistungsbilanz-)Überschuss erzielen, aber dann haben eben die anderen Länder ein höheres Defizit.

Als Teil der finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen liegt der Zinssatz seit 30 Jahren über der Wachstumsrate. Bei dieser Konstellation dürfen die Schuldnersektoren „Unternehmen“ und „Staat“ nur weniger Kredite aufnehmen als sie an Zinsen für die Altschulden zu bezahlen haben, sonst wachsen ihre Schulden rascher als das BIP – sie müssen also Primärüberschüsse erzielen. Die Unternehmen „drehten“ daher ihren Primärsaldo in einen Überschuss, und zwar durch weitere Senkung der Realinvestitionen. Aber auch die Hauhalte erziel(t)en weiterhin Primärüberschüsse: Sie sparen (viel) mehr als ihre Zinserträge. So konnte es dem Staat nicht gelingen, selbst langfristige Primärüberschüsse zu erzielen. Also musste die Staatsschuldenquote steigen.

Fazit: Der Staat hat es allein nicht in der Hand, seinen Budgetsaldo und seine Schuldenquote zu bestimmen, diese sind Resultat der Interaktion aller Sektoren. Die neoliberalen Geistesgrößen können aber den systemischen Charakter des Problems nicht begreifen, sie denken schlicht: „Der Schuldner ist schuld.“ Dieser Schwachsinn wurde im Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU „verewigt“ und soll nun ausgeweitet werden.

Also müssen alle EU-Staaten sparen und gemeinsam die Krise vertiefen: Die Unternehmer sind ja (noch) nicht bereit, ihre Investitionen stark auszuweiten, die Haushalte sparen eher mehr, und die Leistungsbilanzüberschüsse gehen zurück. Im Klartext: Alle Sektoren versuchen zu sparen, wenn dann der Stabilitätspakt noch verschärft wird, werden wir uns gegenseitig in eine Depression geißeln.

Die Alternative: Durch eine expansive Strategie kann das Problem der Staatsverschuldung bekämpft werden, gemeinsam mit den anderen systemisch bedingten Problemen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Umweltverschlechterung. Also: Wir brauchen einen „New Deal“ für Europa:
Zusätzliche Aufträge an die Unternehmen mit hohen Multiplikatoreffekten (thermische Gebäudesanierung, Infrastruktur, Forschung): Dies stärkt die Investitions-, Kredit- und Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen.
Bessere Absicherung der Hauptopfer der Krise wie Arbeitslose und (sonstige) Menschen an/unter der Armutsgrenze: Dies stärkt den Konsum, aber auch den sozialen Zusammenhalt.
(Anschub-)Finanzierung durch Beiträge der sozial Bestgestellten, insbesondere der Besitzer großer Finanzvermögen (Abgabe auf Wertpapierdepots, „Normalbesteuerung“ der Privatstiftungen, KEST-Erhöhung auf 35Prozent, temporäre Erhöhung des Spitzensteuersatzes): Dies verteilt Sparen zum Staat um, der Konsum wird kaum gedämpft.

Verwirrte Eliten

Wenn die „Reichen an Geld“ darauf bestehen, dass der Staat seine Schulden an sie durch Verringerung seiner Ausgaben abzahlt, dann verlangen sie eine logische Unmöglichkeit: Die Deckung der Staatsschuld besteht ja im künftigen Wirtschaftswachstum – eine kollektive Sparpolitik führt aber in die Krise.

Endstation: Umschuldung aller EU-Staaten. Das wird für die „Reichen an Geld“ viel teurer, als jetzt zu einem „New Deal“ beizusteuern. Dieser gäbe den Arbeitnehmern die Chance, gemeinsam mit den Unternehmern die Schulden des Staates gegenüber den „Reichen an Geld“ abzutragen.

Eine solche Gesamtstrategie versucht Obama derzeit, dies tat Roosevelt mit seinem „New Deal“. Reichskanzler Brüning setzte hingegen auf Sparpolitik – wie unsere von den Lehren der Mainstream-Ökonomen verwirrten Eliten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2010)

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