Europa kann seiner Schicksalsfrage nicht entkommen

Die Bruchlinien vertiefen sich. Zerbricht oder verwandelt sich Europa?

Europa steht am Scheideweg. Entweder die Union der 27 Staaten geht voran; dann verwandelt sie sich unwiderruflich in etwas Größeres: eine Gemeinschaft der Solidarität und Haftung füreinander – den Bundesstaat. Oder sie krebst zurück, weil sie die irreversible Metamorphose fürchtet, die den Nationalstaat zum Schneckenhaus vergangener Epochen machen würde.

Im „Mann ohne Eigenschaften“ wundert sich Musil, dass man die Toten zwar im Benzintrab auf den Friedhof bringt, doch nicht darauf verzichtet, an den Seiten des Bestattungsautos Palmzweige mit zwei gekreuzten Schwertern anzubringen. In einer analogen Ungleichzeitigkeit befindet sich Europa. Die Staatenlenker verweigern weitere Abgaben nationaler Macht nach Brüssel (ihrer Macht also) – so wie inzwischen wohl große Teile ihrer Völker. Die Zeit sei noch nicht reif dafür, flüstert die Emotion. Die Globalisierung ließe eine sinnvolle Alternative doch gar nicht zu, erwidert der Verstand.

Wie wird das Ringen ausgehen? Seit der Schlacht von Salamis zählt es zu den Defiziten der europäischen Idee, die eigene Spannungsfülle nur halbherzig integrieren zu wollen. Dazu kommt die mangelnde Überzeugungskraft der heute Verantwortlichen hinzu, von denen keiner neben Schuman oder Adenauer, Delors oder Kohl bestehen könnte.

Alles Kolossale sei uneuropäisch, und die Verfeinerung sei das Existenzgeheimnis unseres Kontinents, hat der Historiker Oskar Halecki einmal angemerkt. Das klingt betörend, doch stimmt es? Eine allzu „filigrane“ Union politischer Kleinhäusler gilt auf anderen Kontinenten fast schon als handlungsdekadent. Das hat die EU bei der Kopenhagener Klimakonferenz bemerken müssen; das musste sie registrieren, als Präsident Obama sein Desinteresse an folgenlosen Kontaktübungen mit Einzeleuropäern nicht verbarg.

Über den erwähnten Scheideweg wird Europa nicht schon jetzt entscheiden. Wohl aber, wenn die Griechenland-Hilfe an ihr Ende kommt; wenn Hellas dann – eher in zwei als in drei Jahren – auf eigenen Beinen noch nicht überleben kann. Dann, spätestens, zerbricht oder verwandelt sich Europa.

Bleiben wir beim Fall Griechenland. Das primäre Haushaltsdefizit – also der Fehlbetrag ohne Schuldendienst und Zinsen – liegt bei 8,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Allein dieses Defizit zu beseitigen, ist angesichts der Wirtschaftslage nahezu unmöglich. Nun aber wird das Gesamtdefizit des Staates wegen der Zins- und Zinseszinsdynamik nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds bis 2013 auf rund 150 Prozent steigen – der jährliche Schuldendienst beträgt dann 17 Prozent des BIPs! Und auch das nur, wenn sich die optimistischen Wachstumsannahmen bestätigen. Bei einem um nur ein Prozent geringeren Wachstum wird der Schuldenstand Griechenlands bis 2020 auf 166 Prozent klettern.

Es gibt kein Beispiel aus der Geschichte für eine erfolgreiche Sanierung in einem solchen Irrsinnsfall. Ohne einen drastischen Schuldenverzicht der Gläubiger ist eine Lösung undenkbar. Das weiß auch die EU, hat aber beschlossen, zum jetzigen Zeitpunkt einem Hilfspaket den Vorzug vor einer Umschuldung zu geben. Denn eine Umschuldung würde vor allem französische und griechische, aber auch deutsche und andere Banken in schwerste Krisen stürzen. Die Sparer würden die Bankenschalter stürmen, das Finanzsystem bräche zusammen, der Griechenvirus würde endgültig zur befürchteten Pandemie in ganz Europa führen. „Lieber warten wir mit der Umschuldung auf morgen“, denkt die EU – und zwingt sich damit, in kurzer Zeit neue Regelmechanismen zu entwickeln. Hat sie die Kraft dazu?

Gesunkene Wettbewerbsfähigkeit

Noch schwerer lösbar ist das andere Problem der südeuropäischen Patienten – das ihrer dramatisch gesunkenen Wettbewerbsfähigkeit: bei Griechenland etwa minus 20Prozent seit dem Eurobeitritt. Durch die Aufgabe der nationalen Währungen steht das klassische Rezept einer Abwertung nicht mehr zur Verfügung. Natürlich können und müssen die Südeuropäer auch Strukturreformen anpacken (beim Arbeitsmarkt und den Sozialsystemen), doch die dadurch mögliche Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit braucht lange Zeit – zu lange.

Also bleiben nur zwei andere Wege: eine drastische Senkung der Lohnstückkosten (also Lohnverzicht) in Südeuropa – das könnte soziale Revolten und den Sturz von Regierungen bedeuten. Oder exportübermächtige Länder wie Deutschland erhöhen ihre Löhne, nehmen Einbußen ihrer Konkurrenzfähigkeit in Kauf und importieren und konsumieren mehr aus Südeuropa – wenig spricht für diese Bereitschaft in Berlin. Sie ist umso unwahrscheinlicher, weil mit einer solchen „Therapie“ eine erhöhte Inflationsrate verbunden wäre. Nichts fürchten die traumatisierten Deutschen mehr als eine Geldentwertung – es wäre das Ende der Regierung Merkel.

„Wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt“, sagt die deutsche Kanzlerin. Das klingt fatalerweise so, als hätten die Hartz-IV-Empfänger mitgewirkt an der Verschuldenskrise, als wäre Otto Normalverbraucher mitschuld am vielbeklagten „Leben auf Pump“. Nein, es waren schon die Regierungen, die über Jahrzehnte staatliche Leistungen versprachen, die in immer höherem Maße durch Kredite finanziert wurden in der Erwartung eines Wirtschaftswachstums, das nie mehr enden würde. Schon diese Annahme war falsch.

Dazu kommt, dass es fast keine Euroregierung geschafft hat, in guten Zeiten Budgetüberschüsse zu erzielen, wie versprochen. Im Verteilen aus dem Füllhorn sahen und sehen politische Wohltäter stets ihre schönste Selbstbestätigung. Gewiss, viele staatliche Leistungen gingen in Zukunftsinvestitionen, doch noch mehr in einen Konsum ohne Gegenleistung. Ein Bauer, den der Hunger zwingt, sein Saatgut aufzuessen, weiß, was es geschlagen hat. Und was unterscheidet die Geldalchemisten an den Börsen von jenen Verwaltern öffentlicher Körperschaften, die sich – auch in Österreich – mit Devisengeschäften, Cross-Border-Leasing und anderen Spekulationsaktivitäten Finanzmittel verschafften?

Aus dem europäischen Dilemma allgemeiner Staatsverschuldung gibt es keinen Ausweg, der schmerzfrei wäre. Nach allen Prognosen, auch des IWF, wird sich die Schuldenproblematik in der EU zunächst vertiefen – bei kümmerlichem Potenzialwachstum. Das alles mag schon in zwei Jahren den Druck dafür erhöhen – so hört man in Berlin –, die Währungsunion in Nord und Süd zu spalten. Ein „Euro der zwei Geschwindigkeiten“ also.

Abbau der Ungleichgewichte

Geht das überhaupt? Das Wortgeklingel verbirgt die Unhaltbarkeit solcher Konstruktionen. Tatsache ist freilich, dass ohne einen Abbau der Ungleichgewichte in der Eurozone – also der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit vieler Länder – der Süden auf permanente Finanzhilfen angewiesen bliebe. Dann aber dürfte im Norden der öffentliche Groll nicht mehr zu kontrollieren sein. Ohne funktionierenden Bundesstaat werden die Wähler die Daueralimentation eines gesamteuropäischen „Mezzogiorno“ gewiss nicht akzeptieren. Doch einen Bundesstaat: Den wollen sie auch nicht.

Europas Bruchlinien vertiefen sich. Das 750-Milliarden-Paket, beteuern die Politiker, schützt und stützt den Euro. Für den Moment trifft dies auch zu. Doch die volle Wahrheit ist es nicht. Seit der panikartigen Beschlussfassung am 9.Mai leben wir in einem Europa mit einer finanzpolitisch völlig anderen Geschäftsgrundlage. Über die Konsequenzen daraus sollten wir ungeschminkte Rechenschaft verlangen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.