Weg frei für den Kosovo!

Der Spruch des IGH muss genutzt werden. Die EU sollte ihre Rolle in der Balkanregion jetzt voll wahrnehmen.

In seinem Gutachten vom 22.Juli stellt der Internationale Gerichtshof in aller Klarheit fest, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstoßen hat. Es ist nunmehr hoch an der Zeit, alle verbleibenden Unsicherheiten in Bezug auf die Stellung des Kosovo in der Staatengemeinschaft zu beseitigen und damit eine endgültige Stabilisierung im südlichen Balkan zu ermöglichen.

Serbien muss akzeptieren, dass die Unabhängigkeit des Kosovo eine irreversible Realität ist. Die Wiederaufnahme der Statusverhandlungen wäre daher sinnlos und wird auch sicher nicht erfolgen. Die Teilung des Kosovo wurde von offiziellen Kreisen in Prishtina und Belgrad ebenso wie von der gesamten Staatengemeinschaft zu Recht stets abgelehnt, da sie eine gefährliche Lawine ähnlicher Forderungen in Südserbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina auslösen könnte.

In den nächsten Jahren wird es vor allem darum gehen, zwischen Serbien und dem Kosovo normale nachbarschaftliche Beziehungen zu entwickeln. Dies liegt im Interesse beider Länder und ihrer Bürger, aber auch in jenem der ganzen Region. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es keiner groß angelegten Regierungsverhandlungen, wie sie derzeit im Gespräch sind, sondern ständiger Kontakte auf allen Ebenen, um die zwischen Nachbarn auftretenden Fragen auf pragmatische Weise zu lösen. Auch muss Belgrad die Blockade des Kosovo sowie seiner Mitarbeit in den bestehenden Foren der regionalen Zusammenarbeit aufgeben.

Serbische Minderheit kooperiert

Serbien hat ein legitimes Interesse am Wohlergehen der serbischen Gemeinschaft im Kosovo. Das 2007 auf Basis der Statusverhandlungen in Wien ausgearbeitete Lösungspaket, der sogenannte „Ahtisaari Plan“, enthält umfassende Vorkehrungen zugunsten der serbischen und der kleineren Minderheiten des Kosovo. Durch besondere Gemeinschaftsrechte und eine Dezentralisierung der Verwaltung wird es der überwiegenden Mehrheit der Serben im Kosovo ermöglicht, sich weitgehend selbst zu verwalten. Die Umsetzung des Ahtisaari-Plans ist inzwischen weit fortgeschritten. Die meisten Serben außerhalb des von Belgrad kontrollierten Nordens haben die ihnen gebotenen Möglichkeiten erkannt und kooperieren mit den Behörden des Landes. Es läge im Interesse der serbischen Gemeinschaft, dass Belgrad die Eingliederung des Nordteils in das staatliche System des Kosovo nicht weiter verhindert.

Die fünf EU-Staaten, die den Kosovo bisher nicht anerkannt haben – Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern– sollten sich der Mehrheit anschließen. Eine gemeinsame Haltung würde die EU endlich in die Lage versetzen, die ihr zukommende Rolle in der Balkanregion voll wahrzunehmen und es den politischen Führern Serbiens leichter machen, die Realität der Eigenstaatlichkeit des Kosovo zu akzeptieren.

Bisher haben 69 Staaten den Kosovo anerkannt. Nach dem Gutachten des IGH besteht nun auch für andere Länder kein Grund, die Anerkennung weiter hinauszuzögern. Keine Regierung muss befürchten, dadurch eine Präzedenz für allfällige Probleme mit Minderheiten im eigenen Land zu schaffen. Es wurde schon oft auf die Besonderheiten des Kosovo-Konfliktes hingewiesen, die eine Analogie mit anderen Situationen nicht zulassen: der republikähnliche Status des Kosovo im alten Jugoslawien, das menschenrechtswidrige Vorgehen Serbiens unter Slobodan Milošević, das militärische Eingreifen der Staatengemeinschaft, acht Jahre UNO-Verwaltung und schließlich der Statusprozess unter der Ägide der UNO. Der Kosovo ist tatsächlich ein Casus sui generis, der mit anderen Konflikten nur wenig Gemeinsamkeiten hat.

Auch im dritten Jahr seiner Existenz sieht sich der Kosovo gewaltigen Herausforderungen gegenüber. Viele Probleme sind Teil der Erbschaft des kommunistischen Systems oder Folgen der Unterdrückung durch das Milošević-Regime und des darauf folgenden zerstörerischen Krieges. Die Versäumnisse der internationalen Verwaltung unter Führung der UNO haben sicherlich das Ihre dazu beigetragen, dass der Kosovo heute mit so vielen ungelösten Fragen konfrontiert ist. Und schließlich müssen auch die jungen Führungskräfte des Landes erst in ihre neuen Rollen hineinfinden und mit den gestellten Aufgaben wachsen.

Wichtige Visafreiheit

Die Menschen im Kosovo haben bisher eine bewundernswerte Geduld an den Tag gelegt und die schwierigen Lebensbedingungen ohne Murren ertragen. Sie verdienen es, dass dem jungen Staat alle nur mögliche Unterstützung gewährt wird. Vor allem muss die den Balkanstaaten wiederholt in Aussicht gestellte europäische Perspektive in gleicher Weise auch für den Kosovo gelten. Es wäre ein katastrophales Zeichen, wenn der Kosovo als einziger Staat von der den Ländern der Region gewährten Visafreiheit ausgeschlossen bliebe. Ein Beitritt zur EU wird für die Staaten des Balkans erst dann möglich sein, wenn sie die Mitgliedschaftsbedingungen auf das Genaueste erfüllt haben. Dazu gehört auch, dass die Kandidatenländer allfällige Konflikte vor dem Beitritt beilegen. Es ist sohin undenkbar, dass Serbien oder der Kosovo Mitglied der Union werden, ohne ihre Beziehungen normalisiert zu haben.

Der Spruch des IGH bietet allen Beteiligten die Möglichkeit, in ihrer Haltung zur Kosovo-Frage zu einem neuen Realismus zu finden. Diese Chance muss genutzt werden, um zu verhindern, dass auf dem Balkan ein weiterer „eingefrorener Konflikt“ entsteht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2010)

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