Bürgerlich ist nur noch die Küche

Gastkommentar. Wo einst Eigenverantwortung ein gesellschaftliches Gebot war, walten heute staatliche Fürsorge und soziale Verhätschelung.

Eine ganze Bevölkerungsgruppe ist samt ihren Werten aus der politischen Debatte nahezu völlig verschwunden: Die Rede ist von den Bürgerlichen und ihrer Weltanschauung. Zwar gibt es die klassischen Bürgerlichen im täglichen Leben nach wie vor. Aber im Zeitalter der politisch korrekt propagierten Gleichheit ist das „Bürgerliche“ verdächtig, Standesdünkel zu begünstigen.

Offiziell steht daher kaum jemand zu den Distinktionen zwischen den sozialen Schichten. Das Bürgerliche wurde solcherart vom diffus definierten Mittelstand absorbiert, welchem sich 70 Prozent aller Leute zugehörig fühlen, und der längst zum offiziellen Zugpferd der gesellschaftlichen Gleichheit geworden ist.

Realiter stellt dieser Stand aber eine sehr bunt zusammengesetzte Schicht mit unterschiedlichen Statuskennzeichen und stark differierenden Bildungsniveaus dar. Die Einbettung des Bürgerlichen in den Mittelstand wird von den einen im Sinne der Gleichheit nun als Erfolg, von anderen aber als eine Nivellierung nach unten betrachtet, die den Verlust von soziologischer Identität und die Hemmung von notwendiger sozialer Elitenbildung bedingt.

Gleichheit ist heute das Credo der Demokratie und hat Vorrang vor allen anderen Werten. War früher das Bekenntnis, sich als Bürgerlicher zu fühlen, durchaus Anlass für Stolz und Selbstbewusstsein, und war das Bürgerliche auch Ansporn für andere Bevölkerungsschichten, so klingt heute dieselbe Ansage verstaubt und gar nicht cool.

Tonangebende linke Moralisten

Unter Umständen ist sie sogar anstößig, wenn sie mit der ursprünglichen Zuordnung des Bürgerlichen zur politischen Rechten verbunden ist. Rechts zu stehen ist von den Moralisten der politischen Linken längst zu einer höchst fragwürdigen Eigenschaft erklärt worden. Kaum ein Politiker bekennt sich daher heute noch zu den seit 200 Jahren gültigen bürgerlichen Werten namens Wirtschaftsliberalität, Freiheit des Einzelnen, Leistungswille, Selbstverantwortung, Pflichtbewusstsein, Intellektualität, Familiensinn, Anstand und klare kulturelle Orientierung.

Bürgerlich sein hieß zunächst, selbst auf sein Fortkommen in der Gesellschaft zu achten und sich anzustrengen, Ziele zu erreichen. Bürgerlich sein bedeutete auch, den Staat nur als einen Rahmen zu betrachten, der die Gesetze erlässt, die Einhaltung derselben überwacht und für die innere und äußere Sicherheit sorgt.

Verdrängte bürgerliche Werte

Durch die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates sind diese Werte kontinuierlich verdrängt worden. Kollektivismus, ausufernde staatliche Obsorge und Umverteilung haben das auf dem Individuum aufbauende Wertegebäude des Bürgertums vielfach ersetzt. Die kollektive Gesellschaft ist nun der alleinige Verantwortungsträger. Der Einzelne ist nicht mehr Bürger, sondern nur mehr Staatsbürger und als solcher vom Staate abhängig.

Wo einst Eigenverantwortung war, sollen nun staatliche Fürsorge und soziale Verhätschelung walten. Die vielbeklagte Armut wird mit more of the same bekämpft. Die Antwort auf dysfunktionale Sozialstaatsstrukturen heißt regelhaft, noch mehr soziale Strukturen zu schaffen. Alle Nachfragen, warum jemand sozial schwach ist und ob er vielleicht selbst etwas an seiner Situation verbessern könnte, gelten nach heutigen politischen Moralvorstellungen als neoliberales Skandalon.

Trotzdem oder gerade deswegen stellen die Werte und Leistungen des Bürgertums nach wie vor jene Essenzen dar, die für den Bestand des Staates und die Entwicklung der Gesellschaft die Grundlage bilden – auch wenn das Bürgerliche in Österreich nur noch in der Küche, der gutbürgerlichen, seinen offiziellen Platz hat.

Prim. Dr. Marcus Franz ist ärztlicher Direktor des Hartmannspitals, Vorstand der Internen Abteilung.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2010)

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