Hass auf die Juden: Der genuin christliche Makel

Sich ein Mal im Jahr auf das gemeinsame Erbe mit den Juden zu besinnen ist für die Kirche zu wenig. Ein Plädoyer in fünf Punkten.

Gastkommentar

Die christlichen Kirchen Österreichs begehen in diesen Tagen die jährliche „Gebetswoche für die Einheit der Christen“. Ihr vorangestellt ist seit Jahren – so sieht es die Regie des liturgischen Kalenders vor – der „Tag des Judentums“ (17.1.) in Erinnerung an die jüdischen Wurzeln des Christentums.

Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das große ökumenische Projekt der Versöhnung zwischen Christen und Juden, für das sich Papst Johannes Paul II. so intensiv engagiert hat, stagniert.

Die Besinnung der katholischen Kirche auf das gemeinsame religiöse Erbe mit den Juden gehört seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) zur offiziellen Doktrin. Aber hat sich in dem halben Jahrhundert, das seither vergangen ist, das Verhältnis der Kirche zum Judentum über ökumenische Höflichkeiten hinaus substanziell und nachhaltig geändert? Weder wurde die jüdische Religion von der Kirche als eigenständiger Heilsweg rehabilitiert, noch ist der christliche Antisemitismus bewältigt.

„Unvergängliche Schande“

Ein Mal im Jahr daran zu erinnern, dass es ohne Judentum kein Christentum gibt, ist zu wenig. So wird der christliche Makel eines durch Jahrhunderte hindurch praktizierten und theologisch gerechtfertigten Judenhasses nicht getilgt. Vielmehr bedarf es grundsätzlicherer Weichenstellungen, um das Verhältnis der Kirche zum Judentum endlich in Ordnung zu bringen.

Erstens: Ohne Gerechtigkeit kann es keine wahrhafte Versöhnung geben. Die „unvergängliche Schande Auschwitz“ (M. Walser) ist auch eine unvergängliche Schande für das europäische Christentum. Der Friedensnobelpreisträger und Überlebende des Holocaust, Elie Wiesel, spricht die für christliche Ohren bittere Wahrheit aus: „Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.“ Ohne den durch Jahrhunderte hindurch tradierten kirchenchristlichen Antijudaismus hätte der antijüdische Rassismus der Nazi-Diktatur keine Grundlage gehabt. Diese Fehlentwicklung, ihre Voraussetzungen und Folgen haben Theologie und Kirche zu verantworten. Das ist bis heute nicht geschehen.

Zweitens: Ohne Versöhnung mit den Juden hat das Christentum keine spirituelle Zukunft. Alles Reden von einer notwendigen spirituellen Erneuerung der Kirche bleibt sinnleer, solange das europäische Christentum nicht aus den langen Schatten der Shoah zu treten vermag. Versöhnung mit den Juden bedeutet zugleich auch Chance auf Heilung der verdrängten Wunden, die christliche Schuld und Mitschuld an den Verbrechen gegen das jüdische Volk hinterlassen haben.

Versöhnung als Therapie

Der Prozess der Versöhnung ist also auch ein therapeutischer Prozess: Er bietet den Christen die Möglichkeit der Reintegration des abgetrennten jüdischen Anteils an der christlichen Kollektivseele. Diesen unverzichtbaren psychohygienischen Akt der Selbstreinigung sollte die Kirche fördern und nicht länger verhindern.

Drittens: Es bedarf einer völligen Neukonzeption des christlichen Selbstverständnisses. Fast 2000 Jahre lang hat das Christentum die jüdischen Voraussetzungen und Bedingungen seiner Existenz verdrängt. Damit hat es aber auch seine eigenen religiösen Quellen verschüttet. Niemand kann wahrhaft Christ gegen das Judentum sein oder auch nur am Judentum vorbei. Wo sind die theologischen, religionspädagogischen und pastoralen Konzepte, die dieser Einsicht folgen?

Viertens: Christentum ist mit Antisemitismus unvereinbar. Christliche Identität hat sich durch zwei Jahrtausende hindurch in negativer Abgrenzung und Feindschaft zum Judentum entwickelt. Zwei Generationen nach dem Holocaust ist der antijüdische Reflex in den christlichen Kirchen immer noch nicht überwunden.

Dass Antisemitismus heute eine „Querschnittsideologie“ ist, die in allen Bevölkerungsschichten anzutreffen ist, nimmt der Kirche nichts von ihrer moralischen Verantwortung. Sie muss sich endlich mit dem Antijudaismus als genuin christlichem Makel schlechthin auseinandersetzen und dessen zutiefst antihumanen Gehalt entlarven. Jede Form des Antisemitismus richtet sich gegen Gott selbst – den gemeinsamen Gott der Juden und der Christen.

Fünftens: Das Verhältnis zwischen beiden Schwesterreligionen kann nur ein familiäres, kein missionarisches sein. Versöhnung schließt jede Art von Vereinnahmung aus: Kirchliches Bemühen um Verständigung und Versöhnung mit den Juden darf nicht länger in christlicher Bekehrungsabsicht erfolgen.

Umarmen, nicht ersticken

Es geht nicht um Konversion, sondern um die Möglichkeiten der Konvergenz zwischen Judentum und Christentum im Dienst an der einen, beide Religionen verpflichtenden Aufgabe: der „Arbeit an der Erlösung“ der Welt (G. Scholem). Dazu bedarf es einer neuen christlichen Kultur der Anerkennung und solidarischen Wertschätzung des Judentums.

Aber die Umarmung der Juden darf nicht zu deren Ersticken führen, also dazu, die Juden vom Judentum trennen zu wollen. Nicht die Juden bedürfen der christlichen Missionierung, sondern die Christen müssen sich des Geistes Israels, aus dem der gläubige Jude Jesus schöpfte, würdig erweisen.

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comMaximilian Gottschlich ist Professor am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien. Mit der in seinem Gastkommentar angeschnittenen Thematik beschäftigt sich auch sein Buch: „Versöhnung. Spiritualität zwischen Thora und Kreuz. Spurensuche eines Grenzgängers“ (Böhlau 2008). [Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2011)

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