Was Tunesiens Demokraten von Osteuropa lernen können

Gastkommentar. Auch wenn es einem Volk gelingt, einen Diktator von der Macht zu vertreiben, ist eine Revolution noch längst nicht gelungen.

Der Zusammenbruch des Ben-Ali-Regimes in Tunesien und der jetzige Aufruhr in Ägypten erinnern an die demokratischen Revolutionen in Osteuropa vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten und die Reihe von demokratischen Umbrüchen, die im vergangenen Jahrzehnt autoritäre Regierungen wie jene von Milošević in Serbien bis zu jener von Akajew in Kirgisistan hinweggefegt haben.

Nicht immer war „people power“ erfolgreich. Auch wenn es gelingt, den Diktator zu vertreiben, ist die Revolution noch längst nicht gelungen. Oftmals folgt nur ein neuer autoritärer Herrscher nach.

So geschah es in Kirgisistan, als nach der „Revolution der Tulpen“ 2004 der neue Präsident Kurmanbek Bakijew autoritärer herrschte als sein Vorgänger Askar Akajew. Erst erneute Massenproteste im vergangenen Jahr konnten ihn aus seinem Amt vertreiben.

Ähnlich in Georgien, wo das korrupte Regime von Eduard Schewardnadse 2003 in der „Revolution der Rosen“ durch Michail Saakaschwili abgelöst worden ist. Auch wenn er (noch) kein Diktator ist, hat er die Macht auf gefährliche Weise auf sich konzentriert und durch seinen aggressiven Politikstil im August 2008 einen Krieg mit Russland um Abchasien und Südossetien vom Zaun gebrochen.

Tunesien, im Gefolge vielleicht auch Ägypten, haben somit erst den ersten Schritt auf dem langen Weg zur Demokratie unternommen. Doch wie lässt sich eine Rückkehr zur Diktatur verhindern?

Revolution und Wohlstand

Der amerikanische Politikwissenschaftler Larry Diamond argumentiert, dass der Erfolg der Revolution stark mit dem Wohlstand des Landes zusammenhänge. Ab einer Schwelle des Pro-Kopf-Einkommens von etwa 9000US-Dollar ist heute ein Rückfall in die Diktatur unwahrscheinlich. Obwohl wohlhabender als die meisten Nachbarländer, lag in Tunesien das Pro-Kopf-Einkommen 2008 bei weniger als der Hälfte, nämlich bei 4000US-Dollar. Wie Kritiker jedoch betonen, sollte Wohlstand nicht überbewertet werden, und mit Sicherheit besteht kein Automatismus zwischen Armut und Diktatur.

Wenn man die erfolgreichen Demokratisierungen und Rückfälle in die Diktatur über die vergangenen Jahrzehnte jedoch vergleicht, ist unübersehbar, dass ein höherer Wohlstand die Chancen erhöht, dass sich die Demokratie durchsetzen kann.

Es ist fast schon ironisch, dass einer der Auslöser der Demokratisierungsbewegung in Tunesien wie auch anderswo eine wirtschaftliche Krise ist, jedoch der Erfolg eben jener Demokratisierung durch das Gegenteil, nämlich höheren Wohlstand, begünstigt wird.

Wohlstand alleine vermag jedoch die Erfolgsaussichten für die Demokratisierung nicht erklären. Es kommt auch auf die Nachbarschaft an. Als am 5.Oktober 2000 die Bevölkerung Serbiens durch eine Massendemonstration Slobodan Milošević zum Rücktritt zwang, war Serbien ein Nachzügler in einer demokratischen Region. Sofort wurde Serbien gemeinsam mit Montenegro als Bundesrepublik Jugoslawien in den Stabilitätspakt aufgenommen und mit Krediten für den demokratischen Wandel belohnt. Ganz anders in Kirgisistan: Dort schlug den neuen Eliten die Feindseligkeit der zentralasiatischen Diktatoren von Turkmenistan bis Usbekistan entgegen.

Die Chancen für Tunesien, sich zu einer Demokratie zu entwickeln, wird somit stark davon abhängen, ob auch Algerien, Marokko, Ägypten, Jordanien oder Libyen Schritte in Richtung Demokratie einschlagen, oder ob die Despoten stattdessen die Demokratie in ihrer Mitte isolieren.

Neben den Nachbarn ist auch das weitere geopolitische Umfeld von entscheidender Bedeutung. In Serbien konnte sich die demokratische Regierung behaupten, weil die junge Demokratie von der EU und den USA vorbehaltlos unterstützt wurde, während in Russland Wladimir Putin gerade erst die Macht übernommen hatte und sich kaum einmischte.

Faktoren des Erfolges

In Georgien, Kirgisistan und der Ukraine hingegen sabotierte Russland die Demokratisierungsbewegung – aus Angst, geopolitischen Einfluss zu verlieren und wegen der Vorbildfunktion für Russland selbst. Zudem überwogen für die USA und die EU strategische Überlegungen in Zentralasien (z.B. Truppenversorgung in Afghanistan) und in der Ukraine (Transitland für russische Gaslieferungen).

Die bisherige westliche Akzeptanz arabischer Potentaten ist somit für Tunesien kein gutes Omen. Nur wenn die Angst vor Islamismus und Instabilität für Europa und die USA nicht weiter Vorwand bleibt, sich mit autoritären Herrschern zu arrangieren, wird die Demokratie in Tunesien eine Chance haben. Letztlich hängt der Erfolg der Demokratisierung Tunesiens aber nicht von externen Faktoren ab, die die Demokraten in Tunesien nur wenig beeinflussen können, sondern von der Konsensfähigkeit der politischen Elite.

Orange Selbstdemontage

In der Ukraine lag sich die kurz nach der „orangen Revolution“ 2004 an die Macht gekommene Opposition schon bald in den Haaren. Auch hatten die alten Machtstrukturen, verkörpert durch den heutigen Präsidenten Viktor Janukowitsch, nie wirklich die Beliebtheit unter einem Großteil der Wähler eingebüßt. Somit haben die ehemaligen Revolutionsführer ihre eigene Revolution demontiert und Weg für eine Rückkehr alter Machtstrukturen geebnet.

In Serbien oder Kroatien hingegen gelang es, die ehemaligen Regierungsparteien so lange auszugrenzen, bis diese einen Wandel vollzogen hatten und ohne Risiko für die Demokratisierung zurück an die Macht gelangen konnten.

Einen derartigen demokratischen Konsens herzustellen ist leichter, wenn es ein einigendes Ziel gibt, etwa den Beitritt zur EU. Die tiefe Spaltung zwischen säkularen und islamistischen Parteien in vielen Ländern der arabischen Welt ist somit ein Stolperstein auf dem Weg zur Demokratisierung.

Revolutionen sind ansteckend. Ohne den Kollaps des Kommunismus in Poland und Ungarn hätten sich kaum Hunderttausende in Prag und Leipzig im Herbst 1989 auf die Straßen gewagt. Der Sturz von Milošević diente als Modell in Georgien, wo vor dem Fall von Schewardnadse ständig Dokumentarfilme über Serbien gezeigt wurden, während georgische Oppositionsgruppen Widerstandstechniken von der serbischen Protestbewegung „Otpor“ lernten.

Worauf die Despoten hoffen

Ohne Zweifel wird Tunesien auch die arabische Welt inspirieren. Ob die Demokratisierung Tunesiens jedoch gelingen wird, hängt nicht nur von der Reaktion der Regime der Region, sondern auch davon ab, ob sich eine stabile Demokratie überhaupt entwickeln kann.

Kommt es hingegen zu einer zerstrittenen Herrschaft fragwürdiger und korrupter Demokraten wie in der Ukraine, kommt es zum Aufstieg eines neuen Diktators wie in Kirgisistan, oder kommt es zu Pogromen gegen Minderheiten wie in Südkirgisistan letztes Jahr, werden die Despoten in der Nachbarschaft mit Genugtuung auf die Ereignisse schauen und dürfen auf weitere Jahre an der Macht hoffen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2011)

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