Anleitung zu mehr Weltoffenheit

Gastkommentar. Ein Experiment zeigt: Wir alle haben unterschiedliche Zugehörigkeitsgefühle. Geografische Nähe spielt dabei häufig keine Rolle.

Sehr geehrte Leser! Es stört Sie, dass Menschen in Ihrer Umgebung einen anderen Kleidungsstil bevorzugen als Sie? Oder dass sie sich einer Religion zugehörig fühlen, von der Sie höchstens denken, sie zu kennen? Dass diese eine Sprache sprechen, die Sie nicht verstehen, oder dass sie sich für Geschehnisse in einem anderen Land scheinbar mehr interessieren als für ihr Grätzel?

Darf ich zu einem kleinen Experiment einladen? Dazu braucht es lediglich Papier, Stift, einige Minuten Zeit und die Bereitschaft, etwas in sich zu gehen. Zeichnen Sie in der Mitte des Blattes einen Kreis und um diesen herum zwei weitere – jeweils groß genug für Beschriftungen. Nach Belieben können Sie weitere Umkreisungen verwenden, die bereits bestehenden unterteilen oder am Blattrand Inseln hinzufügen.

In den innersten Kreis schreiben Sie den Ort, die Stadt oder den Bezirk, wo Sie sich zu Hause fühlen. Sie können gerne mehrere Orte eintragen, wenn das Ihrem Heimatgefühl entspricht. Je nach empfundener Wichtigkeit notieren Sie nun von den innersten Kreisen weg alle Gegenden, die einen wesentlichen Bestandteil Ihres Lebens darstellen, wie etwa eigene Wohnsitze, die Heimat von Freunden und Verwandten oder von Ihnen bereiste Gegenden.

Gönnen Sie sich einige Minuten, um Ihre persönliche Landkarte der Zugehörigkeit so aufzuzeichnen, dass Sie sich damit identifizieren können.

Wo wir uns zu Hause fühlen

Nun kommen wir zum wesentlichen Teil des Experiments. Sehen Sie sich die Orte in den Kreisen an. Wie viele davon liegen geografisch nicht in Ihrer Nachbarschaft, grenzen somit nicht direkt an Ihren Heimatort? Überlegen Sie, wie viele oder welche Ortschaften, Bezirke, Städte oder gar Länder dazwischen liegen. Weshalb haben Sie aber diese nicht in Ihrer persönlichen Landkarte notiert, obwohl Sie doch näher wären?

Wir alle haben unterschiedliche Zugehörigkeitsgefühle. Geografische Nähe spielt dabei häufig keine Rolle. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, jedoch oft nicht im Bewusstsein verankert. Wir fühlen uns dort zu Hause, wo wir Freunde haben, viel Zeit verbringen oder besondere Erlebnisse hatten, wo wir unsere tägliche Arbeit verrichten oder uns in Träumen hinsehnen. Wir wollen über Geschehnisse an diesen Plätzen Bescheid wissen – sei es durch Gerüchteküche und Dorftratsch oder über Fernsehen, Zeitung und Internet.

Egal, ob Sie bereits Ihr Leben lang in Wien oder in einem Dorf in Tirol leben, oder ob Sie von Deutschland, Ägypten oder einem anderen Flecken dieser Welt dorthin migriert sind – es ist die innere Verbundenheit, die uns Orte nah erscheinen lässt.

Oft sind es größere Distanzen, oft kleinere, was aber nicht unbedingt mit Migration zusammenhängen muss und im Grunde keinen Unterschied macht. Reisen, Auslandsaufenthalte sowie Internetforen eröffnen uns ebenfalls die Welt. Und es würde sich wohl niemand – und das völlig zu Recht – absprechen lassen, diese persönlichen Orte aktiv ins Leben einzubeziehen: nicht Sie, nicht ich, nicht unsere Nachbarn oder Freunde, kein Mensch auf dieser Welt.

Mag. Susanna Reiskopf ist Kultur- und Sozialanthropologin und Mitglied der Initiative Teilnehmende Medienbeobachtung (www.univie.ac.at/tmb/)


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2011)

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