Die ÖVP sucht ihre Zukunft – und damit auch sich selbst

Vor lauter Suche nach neuen Köpfen und Wählergruppen übersieht die Volkspartei die Auseinandersetzung mit Themen und Inhalten.

Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl hat schon recht gehabt, wenn er seiner Partei empfiehlt, sich ein paar Wochen Zeit zu geben, um über Inhalte zu diskutieren; erst dann solle über die Parteiführung entscheiden werden.

Nun hat sich der Parteivorstand aber gleich für Michael Spindelegger entschieden und diesen – übrigens auch mit der Stimme Leitls – zum Parteiobmann gewählt. Die inhaltliche Diskussion wird man sich aber nicht ersparen können, will man in den nächsten Jahren noch eine gewichtige Rolle in der österreichischen und europäischen Politik spielen.

Dieser Tage will Spindelegger also sein neues Team präsentieren. Keine Frage, in einer zunehmend personenzentrierten Demokratie ein wichtiger Faktor in der Politikvermittlung. Um die politische Linie der Partei und der Regierung professionell und wirkungsvoll darzustellen, sind dabei authentische und greifbare Persönlichkeiten gefragt. Ebensolche Herausforderungen sind die Analyse und Einordnung nach Wählergruppen. Welche Zielgruppen lassen sich von der ÖVP noch ansprechen? Wo gibt es in Zukunft für die Partei Stimmen zu holen, welche Gruppen lohnen die Auseinandersetzung?

Alte Milieus erodieren

Da wird zum Beispiel von den unter 30-Jährigen gesprochen, die sich von der ÖVP abwenden, oder von urbanen Milieus, in denen die ÖVP ebenfalls zunehmend an Boden verliert. Diese Gruppen sind relativ unkompliziert einzugrenzen und zu lokalisieren.

Auch die einzelnen Berufsgruppen werden in diesem Prozess gern herangezogen. Derzeit wird der ÖVP etwa von Beratern und Kommentatoren empfohlen, man möge sich doch auf die Angestellten konzentrieren. Nur, wer ist das genau? Der Dienstzettel sagt längst nichts mehr über das soziale Milieu und die (politischen) Einstellungen der Menschen aus. Sind die Angestellten heute noch Bürgertum, und sind die Arbeiter noch Hackler, sind Vertragsbedienstete mit Leib und Seele Beamte, und sind Selbstständige eigentlich Unternehmer? Einzig die Gruppe der Landwirte scheint relativ homogen zu sein, ist jedoch mit drei Prozent Anteil an der Wählerschaft längst nicht mehr wahlentscheidend.

Der Prozess um die Definition nach potenziellen Wählergruppen ist längst nicht neu und hat in den Sechzigerjahren seinen Ausgang genommen. Der amerikanische Politologe Ronald F. Inglehart hat bereits 1971 in seinem Hauptwerk „The Silent Revolution in Europe“ den postmaterialistischen Wechsel beschrieben. Die Kinder der Konservativen wurden zur neuen Linken, und die Kinder der Arbeiterschaft liefen zur neuen Rechten über (Piero Ignazi, 1992, „The Silent Counter-Revolution“).

Dieser Prozess ist ungebrochen am Laufen und hat mit der Zeit noch mehr und vor allem wesentlich ausdifferenzierte Lebensstile hervorgebracht. Die Wirtschaft hat diese Entwicklung längst aufgegriffen und definiert heute ihre Zielgruppen deutlich differenzierter – und zwar erfolgreich. Nur die österreichischen Parteien denken noch immer in alten demografischen Mustern. Doch mit der mittelalterlichen Ansprache von Bauer, Bürger, Edelmann wird die ÖVP in Zukunft nicht erfolgreich sein.

Der zukünftige Erfolg der ÖVP, ebenso wie der aller anderen Parteien, hängt entschieden von der Themensetzung ab. Nun mangelt es der Volkspartei nicht an Themen und Werten. Die Gretchenfrage ist aber: Sind die Themen und Werte der ÖVP auch die Themen und Werte der Bevölkerung? Trifft der Wertekanon der Volkspartei die Lebensrealität der Menschen in diesem Land? Eher nicht.

Michael Spindelegger wäre gut beraten, würde er in seinem Generalsekretariat eine Taskforce 2050 einrichten, um endlich jenen Themen nachzugehen, die Land und Leute in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen werden. Welche dieser Themen bewegen die Menschen schon heute?

ÖVP-Programm ist 16 Jahre alt

Eine Umfrage ist dafür jedenfalls nicht erforderlich, der Kontakt der Funktionäre zu ihren Wählern hingegen unumgänglich. Lohnend wäre auch, sich die Ergebnisse der hausinternen Perspektivengruppen zur Hand zu nehmen und zu analysieren, was davon noch zu gebrauchen ist.

Josef Pröll ist an der Umsetzung gescheitert. Michael Spindelegger müsste die Erkenntnisse aus diesen Vorarbeiten schon in seine Partei tragen und dabei die eigenen tradierten Werte samt Parteiprogramm infrage stellen. Das bestehende Programm der ÖVP ist nämlich fast auf den Tag genau 16Jahre alt. Die Erde hat sich in dieser Zeit aber weitergedreht.

Die ÖVP versteht sich als Partei, die die Bürger zur Selbstverantwortung ermuntern will. Doch in zentralen Gesellschaftsbereichen traut genau das die ÖVP ihren Bürgern und Wählern nicht zu. Die ÖVP spricht dabei zwar von Eigenverantwortlichkeit, macht aber den Bürgern mit einem Übermaß an Bevormundung und Bürokratie unnötig das Leben schwer.

Dann halt ohne Segen der ÖVP...

Ein Beispiel sind hier etwa gut ausgebildete Mütter und Väter, denen beim Bezug des Kinderbetreuungsgeldes eine Einkommensobergrenze oktroyiert wird. Ganz so, als könnten die armen Hascherln nicht selbst darüber entscheiden, ob sie arbeiten gehen und sich externe Kinderbetreuung leisten wollen oder eben zu Hause bleiben und die Transferzahlung als Einkommensersatz verwenden.

Spindelegger schreibt in „Übermorgen. Meine Thesen für die Zukunft Österreichs“ (Oktober 2010), dass es mit der ÖVP keine Ehe light geben werde. Na gut, dann wird es sie halt ohne die ÖVP geben. Denn die Menschen in diesem Land leben bereits die unterschiedlichsten Lebensmodelle vor – auch ohne Segen der Volkspartei. Und wie lang wurde nicht der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen mit dem Argument blockiert, dass es speziell im ländlichen Raum keinen Bedarf gäbe?

Diese Beispiele betreffen natürlich nur Gesellschaftsthemen, doch die Aufzählung ließe sich scheinbar endlos fortsetzen. Denn auch bei der Wohnbauförderung, Subvention der Landwirtschaft, dem Föderalismus oder Bildungssystem tut sich die ÖVP traditionell mit Veränderungen schwer.

Freiheit, Sicherheit, Wettbewerb

Was wäre der ÖVP also zu raten? Die Partei muss sich in einem ersten Schritt von ihrem paternalistischen Ansatz befreien und die Selbstverantwortung der Bürger auch durch politische Zeichensetzung erkennbar und lebbar machen. Damit schafft die ÖVP auch ein klares Unterscheidungsmerkmal zu allen anderen Parteien, die mehr oder weniger staatsorientiert eingestellt sind.

Die soziale Sicherheit im Land muss natürlich weiterhin gewährleistet sein, denn nur eine sichere Gesellschaft ist auch eine stabile und reformfreudige Gesellschaft. Doch ohne Reformen wird es nicht gehen. Kann sich die ÖVP von alten Zwängen und Standesdenken befreien, hat sie alle Chancen, wieder eine echte Volkspartei zu werden. Mut und Lust zum Aufbruch und zur Veränderung brauchen aber auch eine Volkspartei.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Dr. Peter Hajek,Jahrgang 1971, ist promovierter Politikwissenschaftler der Uni Wien und akademisch geprüfter Markt- und Meinungsforscher. Er ist Managing Partner der Peter Hajek Public Opinion Strategies und hält Lehraufträge an der Universität Wien und an den Fachhochschulen St. Pölten und Wr. Neustadt. [Jenis]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2011)

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