Auch Russland hat Zonen vitaler Interessen

Wer in seinem Urteil über die Machtpolitik von Staaten auf einem Auge blind ist, verliert bald an Tiefenschärfe. Eine Replik auf Paul Schulmeisters Kritik an Putin, weil dieser das Pipelineprojekt Nabucco torpediere.

Den Anspruch auf besondere Einflusszonen zu bestreiten ist müßig. Großmächte haben Zonen vitaler Interessen. Das gilt für Russland ebenso wie für die USA, China, aber auch die EU. Die Instrumente, um solche besonderen Einflusssphären zu schaffen und zu stabilisieren, sind vielfältig: Dazu gehören weiche Macht wie harte Macht, im Fall Russlands auch militärische Macht.

In der Ukraine und im südlichen Kaukasus überlagern sich die hegemonialen Ansprüche Russlands, der USA und der EU. Vitale wirtschaftliche, militärische und geopolitische Interessen aller Akteure prallen in diesen Regionen aufeinander.

Die Anstrengungen der EU, den südlichen Gaskorridor durchzusetzen, sind in deren vitalem wirtschaftlichem Interesse, aber eben auch ein Versuch, besondere Präsenz und Einfluss in der Südflanke Russlands aufzubauen. In dieser Zone vitalen Interesses ist die EU auch bereit, trotz hehrer Werte mit autoritären Regimen in Turkmenistan und Aserbaidschan zusammenzuarbeiten.

Ist nur Moskau zynisch?

Die brutale Knebelung der dissidenten Kräfte in Baku wie auch Folter und Kerker in Aschchabad werden in Brüssel so verhalten wie möglich kritisiert. Das mag gute machtpolitische Gründe haben. Als Beobachter aber diesen Zynismus nur bei Russland zu identifizieren, in den eigenen Reihen aber darüber hinwegzusehen – wie es Paul Schulmeister in der „Presse“ („Rundschau“ vom 16.Mai) tut –, wird rasch unglaubwürdig.

Zur Mehrung der Energiesicherheit der EU ist ohne Zweifel eine Diversifizierung der Gaslieferanten und Gasversorgungsleitungen dringlich. Das gilt für Russland als Versorger, wie auch für die Ukraine als Erdgas-Transitland.

Gerade angesichts der durch die Fukushima-Tragödie entbrannten Debatte über die vermehrte Nutzung von konventionellem und unkonventionellem Gas (Schiefergas, Kohleflöze, Gashydrate) ist die Wahrung energetischer Versorgungssicherheit für die EU ein vitales Interesse. Aber auch wenn der Gasverbrauch in der EU steigen und Gas relativ zu anderen Energieträgern bedeutsamer werden sollte, wird Russland den europäischen Gasmarkt nicht dominieren. Norwegen – dessen Gasproduktion weiterhin stark ansteigen wird – liefert beinahe so viel Erdgas an die EU wie Russland. Die Versorgung aus Nord- und Westafrika kann weiter ausgebaut werden.

Die Energiemärkte sind durch ein Überangebot an Flüssiggas geradezu überschwemmt. Durch den starken Ausbau von Schiefergas (shale gas) werden die USA bald zu einem Nettoexporteur von Gas. Russland ist daher nicht in der Lage, die EU mit der „Gaswaffe“ zu strangulieren.

Auch Russland ist abhängig

Es ist auch mangelhaft, unerwähnt zu lassen, dass Russland von den Märkten der EU zumindest mittelfristig stark abhängig bleiben wird. Russlands Gasexportleitungen führen (jenseits der Gasmärkte in den postsowjetischen Staaten) ausschließlich in die EU und die Türkei. Mit Ausnahme kleiner Mengen an LNG, das im fernöstlichen Sachalin gefördert und an Japan und Südkorea verkauft wird, ist Europa der einzige Abnehmer. Durch die Bindung des Gaspreises an einen Korb von Rohölderivaten erzielt Gazprom gerade auf EU-Märkten hohe Gewinne, die das Unternehmen dringend für die Erschließung neuer Gasfelder braucht.

Blockierer gibt es auch in der EU

Natürlich ist Russland daran interessiert, den Zugriff der EU auf Erdgas aus dem Kaspischen Becken – allen voran in Aserbaidschan und in Turkmenistan – zu blockieren. Angesichts mittelfristiger Produktionslimits und eines hohen Binnenverbrauchs benötigt Russland den Zugriff auf dieses Erdgas, und dies zu möglichst niedrigen Preisen, um seine Exportverpflichtungen bedienen zu können.

Aber auch China will die Erdgasproduktion in diesem Raum kontrollieren. Darüber hinaus arbeiten die EU und Russland gemeinsam daran, die mittelfristig erheblichen Gasexporte des Iran auf östliche Märkte zu drängen. Es sei auch erwähnt, dass europäische Privatunternehmen wie ENI, Electricité de France und BASF Wintershall ebenso daran interessiert sind, dass Nabucco scheitert und das rivalisierende Projekt South Stream, an dem diese Konzerne beteiligt sind, realisiert wird.

Dies trifft auch zu, wenn Schulmeister auf den Widerstand Russlands gegen das „ownership unbundling“ der EU – die Trennung von Energieerzeugern und Netzbetreibern – verweist; diese Ablehnung teilt Gazprom nämlich mit EDF, BASF Wintershall oder E.ON Ruhrgas. Die Interessenlagen sind damit viel komplexer, als Schulmeister dies dargelegt hat.

Nicht bloß Russland versucht also, den südlichen Gaskorridor zu blockieren; Energieunternehmen der wichtigsten Mitgliedsländer der EU beteiligen sich daran.

Die Ukraine wiederum ist aufgrund ihrer geopolitischen Lage sowohl für die EU, die USA wie auch für Russland eine strategische Zone. Der Wettbewerb um strategische Kontrolle über dieses Land ist scharf und zuweilen aggressiv. Diese Rivalität zu leugnen wäre absurd – für alle Akteure.

Das Ringen um die Ukraine

Russland hat seit dem Machtwechsel in Kiew seine Interessen stärker durchsetzen können als in der Amtszeit von Viktor Juschtschenko, die USA und die EU haben relativ an Einfluss verloren. Aber auch Moskau kann die ukrainische Elite nicht nach eigenem Willen kontrollieren und lenken.

Auch ist der Versuch, die hegemoniale Kontrolle über die Ukraine zu errichten, reversibel; nicht zuletzt, weil auch innerhalb der Ukraine starke Kräfte – allen voran die finanzstarken Eigentümer des Rohstoff- und Schwerindustriesektors – gegen die russische Bevormundung wirken.

Russland vorzuwerfen, die politische, wirtschaftliche und militärische Kontrolle über seine Nachbarstaaten zu erlangen, ist absurd. Alle Großmächte folgen dieser Logik – Russland eben auch. Aber ebenso ist es nachvollziehbar, warum andere Staaten diesem Kontrollanspruch mit eigenen Mitteln und Instrumenten entgegenwirken (sollten). Der russischen Hinterhofpolitik gilt es, westliche Vorhofpolitik entgegenzusetzen.

Noch ein Wort: „Russland zu verstehen“ als Makel zu bezeichnen ist eigenartig. Russland zu verstehen meint doch nicht notwendig, Verständnis für Russland zu haben. Aber auch wer Verständnis hat, billigt trotzdem nicht unabdingbar alles. Wer aber in seinem Urteil über die Machtpolitik von Staaten auf einem Auge blind ist, verliert bald an Tiefenschärfe.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Gerhard Mangott (*9.6. 1966 in Zams) studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Slawistik an den Universitäten Innsbruck und Salzburg. Seit März 2003 a.o. Professor für Politikwissenschaft an der Uni Innsbruck.

Zahlreiche Publikationen, darunter „Russland als defekte Demokratie“ (2002) und „Der Russische Phönix. Das Erbe aus der Asche“ (2009).

[Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2011)

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