Zeit ist überreif, die Unkultur des Schweigens zu beenden

Für einen Kulturwandel in den EU-Institutionen: Menschen, die gegen Korruption und Misswirtschaft ankämpfen, gehören geschützt.

Gastkommentar

Whistleblower – auf gut Deutsch: Hinweisgeber – sind Menschen, die illegales Handeln oder Missstände nicht länger schweigend hinnehmen, sondern aufdecken – meistens geschieht das im Interesse der Allgemeinheit. Dem gegenüber steht der Wunsch der Betroffenen nach Schutz von vertraulichen Daten, Amts- und Geschäftsgeheimnissen. Dieses Spannungsverhältnis führt oftmals zu einem jahrelangen Machtkampf auf juristisch dünnem Eis, dessen Dynamik nicht selten den Whistleblower selbst zermürbt und als abschreckendes Beispiel Folgeschäden verursacht.

Klare Gesetze für einen geordneten Ablauf, eine ausgewogene Balance aus Schutz und Sanktionen sind daher essenziell im Kampf gegen Korruption und Misswirtschaft. Der Wille, solche Gesetze zu beschließen und konsequent zu vollziehen, spiegelt dabei den Wert von Transparenz innerhalb einer Gesellschaft oder Organisation wider.

Im deutschsprachigen Raum werden angehende Whistleblower oftmals mit den Worten gewarnt: „Die Menschen lieben den Verrat, aber nicht den Verräter.“ Eine Volksweisheit, die eine weit verbreitete Missinterpretation des Begriffs und die Unkultur des Schweigens schonungslos offenbart. Denn dort, wo Whistleblowing mit Verrat assoziiert und nicht klar davon abgetrennt wird, hat Transparenz keine Chance, und Korruption wird stillschweigend toleriert.

Obama erkannte den Mehrwert

Doch Whistleblower schaffen einen Mehrwert. US-Präsident Barack Obama hat das erkannt: Sie „sind oft die beste Informationsquelle gegen Verschwendung und Korruption“. Allein im Jahr 2005 spülten Whistleblower rund zehn Milliarden US-Dollar an Rückzahlungen in die US-Staatskassen – weit mehr als die US-Regierung durch ihre Kontrollinstitutionen erzielte. Die Tendenz ist steigend, vor allem seit 1986.

Damals wurde der „Fals Claim Act“ (FCA) erweitert. Whistleblower werden nun am finanziellen Erfolg beteiligt. So bekam ein ehemaliger Whistleblower 51,5 Millionen US-Dollar, nachdem durch seine Arbeit das Medikament „Bextra“ 2005 vom Markt genommen werden konnte und das Pharmaunternehmen eine Strafzahlung von 2,3Milliarden US-Dollar an den Staat überweisen musste.

Ein übertriebener Mechanismus, den es freilich kritisch zu hinterfragen gilt. Denn eine schlichte Zahlung in einen Whistleblower-Hilfsfonds wäre wohl zweckentsprechender. Eine gewisse Vorbildrolle im Bereich der Whistleblower-Gesetzgebung muss man dem angelsächsischen Raum trotzdem zugestehen, auch wenn – durch den Umgang mit dem vermeintlichen WikiLeaks-Zulieferer Bradly Manning und dem NSA-Whistleblower Thomas Drake – derzeit ein bedenklicher Schatten über dieser Rolle schwebt. Wie in Österreich herrscht in den Europäischen Institutionen die Unkultur des Schweigens. Whistleblower werden nicht als Chance erkannt, sondern erfahrungsgemäß wie Feinde der Europäischen Gemeinschaft behandelt.

Positivbeispiele sucht man vergebens. Ein zeitgemäßes Whistleblower-Regelwerk existiert nicht. Die Reformbestrebungen der letzten Jahre beschränken sich auf teure Studien. So zum Beispiel 2006: Damals gab das EU-Parlament eine wissenschaftliche Arbeit über Whistleblowing in Auftrag. Das Ergebnis: Die existierenden Regeln „müssen komplett überarbeitet werden“.

Vor zwei Wochen wurde im Haushaltskontrollausschuss des Europaparlaments abermals eine Studie präsentiert. Das von PricewaterhouseCoopers präsentierte Resultat lautet wenig überraschend: Die derzeitigen Regeln für Whistleblowing sind „kein effektives Instrument, um Korruption und Interessenkonflikte in den EU-Institutionen zu bekämpfen“.

Jahrelanger Stillstand

Seit Jahren herrscht somit Stillstand. Das bestätigt auch Marta Andreasen. „Keine Institution hat in den letzten fünf Jahren etwas gemacht“, sagt die ehemalige Whistleblowerin, Ex-Chefbuchhalterin der EU-Kommission und jetzige Europaabgeordnete.

Den Kern der gesetzlichen Reformbestrebungen bilden Artikel 22a und 22b des Europäischen Beamtenstatuts. Diese beiden Artikel regeln seit 2004 nur bruchstückhaft, was man allgemein unter Whistleblowing versteht. Es fehlt an elementaren Bausteinen. Benötigt werden eine detaillierte Definition von Whistleblowern sowie präzise Rechte und Pflichten für die EU-Institutionen und den Whistleblower.

Dazu gehören auch genaue Bearbeitungsfristen für die zuständigen EU-Behörden, ein Recht für jeden Whistleblower auf Anhörung und Information, gezieltes Training für EU-Beamte sowie eine von den EU-Institutionen unabhängige Anlaufstelle, die anonym über Rechte, Pflichten und Möglichkeiten aufklärt. Diese und ähnliche Reformvorschläge hat unter anderem Guido Strack, Vorsitzender des deutschen Vereins „Whistleblower-Netzwerk“, kürzlich dem Haushaltskontrollausschuss vorgelegt.

Neue Gesetze allein reichen nicht

Die derzeit geplante Reform des EU-Beamtenstatuts bietet eine seltene Chance, dies umzusetzen. Ein erster Entwurf der Europäischen Kommission wird dem EU-Parlament voraussichtlich nach der Sommerpause übermittelt. Wie umfangreich dieser Vorschlag sein wird – und ob Artikel 22a und 22b dabei eine Rolle spielen –, ist noch unklar. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es am EU-Parlament liegen wird, dies vehement einzufordern.

Der Rechtsausschuss (JURI) des Europaparlaments ist in diesem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren jedenfalls federführend, und die deutsche Sozialdemokratin Dagmar Roth-Behrendt wurde als Berichterstatterin ernannt.

Doch neue Gesetze allein werden nicht ausreichen. Denn in einer Situation, in der man von Korruptionsverdacht erfährt, in der plötzlich nur noch zwei Entscheidungsmöglichkeiten existieren – nämlich Schweigen oder Aufdecken –, ist oftmals das individuelle moralische Verständnis das bestimmende Element der Entscheidung.

Unsere Gesetze können das Savoir-vivre jedoch nicht ersetzen, aber sie pädagogisieren. Daher können sie nur fördern, was eigentlich notwendig ist, nämlich einen Wandel der Unkultur des Schweigens hin zu einem System mit Wertschätzung für Menschen, die sich gegen Korruption und Misswirtschaft einsetzen.

Anstand nicht länger bestrafen

Anstand darf nicht länger bestraft werden. Und in diese Richtung muss die Glaubwürdigkeit der EU-Institutionen gestärkt werden.

Eine Aufarbeitung vergangener Whistleblower-Fälle durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss – und, wenn notwendig, eine Rehabilitierung von betroffenen Personen – wäre ein geeigneter erster Schritt. Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Korruptionsfälle ist die Zeit überreif für ein lebendiges Bekenntnis zur offenen Demokratie und für mehr Transparenz.

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comMartin Ehrenhauser (*18.9.1978 in Linz) studierte Betriebswirtschaft und Politikwissenschaft in Linz und Innsbruck. Er arbeitete mehrere Jahre für den EU-Parlamentarier Hans-Peter Martin, zerstritt sich aber mit diesem und ist inzwischen unabhängiger EU-Abgeordneter. Er ist Mitglied im Haushaltskontrollausschuss. [APA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2011)

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