Russlands Modernisierung muss von Europa unterstützt werden

Präsident Medwedjew verlangt radikale Reformen des Wirtschaftssystems. Mehr Kooperation mit der EU wäre dabei hilfreich.

Präsident Medwedjew hat mit seiner unlängst vor dem St.Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum gehaltenen Rede die dort versammelte internationale Prominenz aus Politik und Wirtschaft aufhorchen lassen. Der russische Präsident hat seine Vision von der Entwicklung Russlands im kommenden Jahrzehnt dargelegt und damit neuerlich zu erkennen gegeben, dass er für die Umsetzung dieser Strategie auch weiterhin die politische Verantwortung tragen möchte.

Dmitrij Medwedjew sprach sich in St. Petersburg für eine umfassende Privatisierung der russischen Wirtschaft aus, für eine Dezentralisierung der politischen Entscheidungen, eine Stärkung des Rechtsstaates und einen entschlossenen Kampf gegen die immer bedrohlicher werdende Korruption.

Vieles davon hatte Präsident Medwedjew schon in den vergangenen drei Jahren seiner Amtszeit angekündigt. So hatte er im September 2009 in einem von ihm gezeichneten Artikel ein vernichtendes Urteil über die Verhältnisse in seinem Land gefällt („eine ineffiziente Wirtschaft, ein halbsowjetisches Sozialsystem, eine negative demografische Entwicklung und ein instabiler Kaukasus“). Gleichzeitig trat er für eine grundlegende Modernisierung der Wirtschaft und eine behutsame demokratische Erneuerung ein.

Abhängig von Energieexporten

In der Folge hat Medwedjew immer wieder auf die Notwendigkeit einer Verminderung der Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von seinen Energie- und Rohstoffexporten sowie der Förderung einer auf Innovation beruhenden Wirtschaft hingewiesen.

Die von Medwedjew nunmehr in St. Petersburg verlangten Reformen sind noch viel radikaler:

Privatisierung einer Vielzahl staatlich kontrollierter Großunternehmen (wobei der Staatsanteil unter 25Prozent sinken kann). Ablehnung jeglicher Form von „Staatskapitalismus“. Der Staat soll sich darauf beschränken, privates Unternehmertum zu fördern. Dies klingt wie eine Kampfansage an die während der Amtszeit Präsident Putins geschaffenen staatlichen Konzerne. Dezentralisierung der politischen Entscheidungen: Ein politisches System könne nicht funktionieren, wenn immer auf ein Signal aus dem Kreml gewartet werde.

Mit aller Deutlichkeit hat Medwedjew in St.Petersburg erklärt, dass sich das derzeitige russische Wirtschaftsmodell überlebt habe. Es wäre falsch, bloß „ruhiges und mäßiges Wachstum“ anzustreben; was nach Stabilität aussieht, könnte sich als Stagnation erweisen. Erst vor einigen Monaten hatte sich Premierminister Putin für „eine stabile und ruhige Entwicklung“ ausgesprochen.

Es wäre jedoch ein Irrtum, aus diesen unterschiedlichen Positionierungen Präsident Medwedjews und Premierminister Putins einen echten politischen Gegensatz abzuleiten. Die beiden Vertreter des derzeitigen Duumvirats haben immer wieder klargestellt, dass sie ungeachtet gelegentlicher Auffassungsunterschiede in den wesentlichen Fragen übereinstimmen. So erklärte Putin wenige Tage nach Medwedjews St. Petersburger Rede: Was der Präsident vorgetragen hat, ist „unser gemeinsames Programm“.

Verlust an politischer Macht

Putin plädiert für eine bedächtige Umsetzung dieses „gemeinsamen Programms“, weil er – im Sinne der Arbeitsteilung im Duumvirat – auf die mehrheitlich konservative Stimmung in der russischen Öffentlichkeit und im politischen Establishment Rücksicht nimmt. Die beharrenden politischen Kräfte verstehen zwar auch, dass Russlands Wirtschaft diversifiziert werden muss, sie fürchten aber, dass der Preis, den sie selbst für derartige Veränderungen zu bezahlen hätten, zu hoch sei (Verlust an politischer und wirtschaftlicher Macht).

Experten des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften kommen in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass radikale Reformen in Russland unvermeidbar sind, gleich wie die Wahlen zur Staatsduma im Dezember 2011 und die Präsidentenwahl im März 2012 ausgehen werden.

Obwohl die russische Wirtschaft durch eine Reihe positiver Faktoren gekennzeichnet ist – Russland erfreut sich eines, wenn auch rasch abnehmenden Außenhandelsüberschusses; es verfügt über die drittgrößten Devisenreserven der Welt, und sein Finanzsystem ist heute stabiler als jenes der Eurozone –, hat sie aufgrund ihrer übermäßigen Abhängigkeit von Energie- und Rohstoffexporten zunehmende strukturelle Probleme. Russlands Wirtschaft, derzeit die sechstgrößte der Welt, wächst ungeachtet hoher Einnahmen aus Energieexporten zu langsam (2011 voraussichtlich vier Prozent, vor der Krise fast sieben Prozent jährlich), wenn man den Aufholbedarf dieser „emerging economy“ bedenkt und das hohe Entwicklungstempo der übrigen BRICS-Staaten vor Augen hat.

Trotz starker Nachfrage in diesem 142Millionen Menschen zählenden Markt ist die Investitionsbereitschaft seit der Krise auffallend gering. Als Hauptursache dieses schlechten Investitionsklimas gilt die im internationalen Vergleich gigantische Korruption (die Gesamtsumme der jährlichen Bestechungsgelder wird auf 300Milliarden US-Dollar geschätzt).

Seit 2010 verzeichnet die russische Wirtschaft einen Nettokapitalabfluss. Auch der Wunsch junger Russen, ihr Land zu verlassen, nimmt laut der erwähnten Studie der Russischen Akademie der Wissenschaften deutlich zu.

Aus all dem geht hervor, dass eine grundlegende sozioökonomische Modernisierung Russlands, mit der eine Einbindung der Zivilgesellschaft in wichtige Entscheidungen einhergehen muss, nicht mehr aufgeschoben werden kann, wenn ein Niedergang Russlands vermieden werden soll. Russland ist heute genügend gefestigt, um sich nötige Veränderungen ohne Destabilisierung leisten zu können.

Strategische Partnerschaft

Im Laufe der Geschichte war Europa für Russland stets der Quell für Modernisierungen und Reformen. Die EU und Russland, die wirtschaftlich eng miteinander verflochten sind und eine umfassende strategische Partnerschaft anstreben, wollen sich auch bei der Verwirklichung ihrer jeweiligen Modernisierungsvorhaben gegenseitig unterstützen. Die im Vorjahr zwischen der EU und Russland vereinbarte „Partnerschaft für Modernisierung“ ergibt nicht zuletzt auch deshalb Sinn, weil beide Seiten zum Teil ähnliche Probleme zu lösen haben (alternde Gesellschaften, schwer zu finanzierende Pensionssysteme, Integration von Einwanderern u.v.a.).

Russland, das einen hervorragenden Beitrag zur europäischen Kultur geleistet hat, Russland, das mit dem übrigen Europa durch eine gemeinsame, oft tragische Geschichte verbunden ist, darf in seiner gegenwärtigen Entwicklungsphase von Europa nicht im Stich gelassen werden. Die EU muss die Modernisierung Russlands im ureigenen Sinn mit allen Kräften unterstützen. Die Modernisierungspartnerschaft nützt beiden Seiten gleichermaßen.

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comDr. Martin Vukovich (*1944 in Eisenstadt) studierte Rechtswissenschaften in Wien. 1969: Eintritt in den diplomatischen Dienst. Er war Botschafter in Japan, sechs Jahre Botschafter in Moskau und Leiter der sicherheitspolitischen Abteilung im Außenamt. Von 1989 bis 1994 war Vukovich der österreichische Vertreter bei der KSZE. [Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2011)

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