Unwillig zu sparen? Eine Verteidigung der Griechen

Was in Griechenland geschieht, sollte auch in Österreich eine todernste Warnung sein: Schuldenabbau, solange er noch erträglich ist!

Die diversen zum Teil an Dümmlichkeit kaum zu überbietenden Wortspenden auch höchster Politiker aus ganz Europa über die „faulen“ und „sparunwilligen“ Griechen können nicht unwidersprochen bleiben.

Ich habe seit 16 Monaten einen Zweitwohnsitz in Athen und erlebe die dramatische Situation vor Ort. Man beklagt, dass die Sparpläne nicht greifen, weil die Steuereinnahmen sinken. Der Sparwille der Griechen wird infrage gestellt. Welche Überraschung! Hier einige Fakten:

• Lohnkürzungen und Pensionskürzungen bis zu 30 Prozent.

• Senkung des Mindestlohns auf 600 Euro.

• Drastische Verteuerungen ohne Ende (Heizöl +100 Prozent; Benzin +100 Prozent, Strom, Heizung, Gas, öffentliche Verkehrsmittel +50 Prozent) in den letzten 15 Monaten.

• Ein Drittel der 165.000 Handelsbetriebe hat zugesperrt, ein Drittel kann die Löhne nicht mehr bezahlen. Zigtausendfach sieht man in Athen das gelbe Schild mit roter Schrift „Enoikiazetai“ – „Zu vermieten“.
• In dieser Misere bricht der Konsum (die griechische Wirtschaft war immer stark konsumorientiert) dramatisch ein. Doppelverdiener (vorher 4000 Euro Familieneinkommen) haben plötzlich nur noch zweimal 400 Euro Arbeitslosengeld, das erst mit mehrmonatiger Verspätung ausbezahlt wird.

Kein Gehalt seit Monaten

• Staatsbedienstete oder Bedienstete staatsnaher Betriebe, wie Olympic Airlines oder Krankenhäuser, erhalten seit Monaten kein Gehalt und werden auf Oktober oder „nächstes Jahr“ vertröstet. Den Rekord hat das Kultusministerium aufgestellt, das zahlreichen Angestellten, die auf der Akropolis gearbeitet haben, 22 Monate (!) kein Gehalt ausbezahlt hat. Als diese (friedlich!) in einer Demonstration die Akropolis dicht gemacht haben, wurden sie prompt reichlich versorgt, allerdings nur mit Tränengas.

• Der Staat schuldet den Sozialversicherungen immense Summen, die Sozialversicherungen wiederum den Spitälern und Apotheken; diese können ihrerseits ihre Bediensteten nicht bezahlen.

• Die Milliardentranchen der EU fließen dem Vernehmen nach zu 97 Prozent sofort wieder in die EU zurück, an die Banken zur Tilgung von Raten und neuen Zinsen. So wird das Problem schleichend auf die europäischen Steuerzahler überwälzt. Bis zum Crash kassieren die Banken noch kräftig Zinsen, schreiben die Forderungen zulasten der Steuerzahler ab. Geld für Strukturreformen gibt es daher (noch?) nicht.

• Zigtausende Lkw- und Taxi-Einzelunternehmer haben für ihre Lizenzen zigtausende Euro bezahlen müssen, dafür Kredite aufgenommen und sehen sich jetzt mit einer beabsichtigten Liberalisierung konfrontiert, in welcher Neuunternehmer kaum Lizenzgebühren zahlen müssen, Altunternehmer aber noch auf ihren hohen Krediten sitzen und diese abbezahlen sollen.

• Neue Gebühren werden erfunden, so werden für eine Strafanzeige bei der Polizei gleich 150 Euro fällig. Das Opfer darf zahlen, damit eine Anzeige überhaupt aufgenommen wird. Andererseits legen Polizisten schon ihr Privatgeld zusammen, um die Polizeiautos zu betanken, damit sie wenigstens dringendste Einsätze anfahren können.

• Eine dramatische Erhöhung der Gerichtsgebühren findet statt, gegen die die Begehrlichkeit des österreichischen Justizgesetzgebers als völlig harmlos anmutet.

• Eine neue Immobiliensteuer auf Wohnungen wird eingeführt. Vermieter sollen eine Einmalabgabe von 50 Cent bis zu 16 Euro pro Quadratmeter bezahlen, einzuheben mit der Stromrechnung. Wer nicht zahlt, kriegt auch keinen Strom mehr.

Uni-Betrieb zusammengebrochen

• Im öffentlichen Bildungssystem gibt es auf Monate keine Schulbücher mehr, weil der Staat den Verlagen enorme Summen schuldet und die Verlage nicht mehr liefern. Jetzt bekommen die Schüler CDs, die Eltern sollen Laptops kaufen, um überhaupt einen Unterricht zu ermöglichen. Völlig unklar ist, wie die Heizkosten für die Schulen, vor allem im Norden, aufgebracht werden sollen.

• Der Universitätsbetrieb ist überall bis Jahresende faktisch zusammengebrochen. Viele Studenten können ihre Diplomarbeiten nicht abgeben oder Prüfungen ablegen.

• Eine Massenauswanderung unvorstellbaren Ausmaßes steht bevor. Auswanderungsberatungsunternehmen werden gegründet. Die Jugend, darunter viele Studienabsolventen, sieht keine Zukunft mehr in Griechenland. Bis zu 40 Prozent Arbeitslosigkeit bei den Jungakademikern, bis 30 Prozent bei Jugendlichen. Die, die eine Arbeit haben, werden zum Teil nur noch schwarz – ohne Sozialversicherung – zu Hungerlöhnen beschäftigt: 35 Euro in der Gastronomie für einen Zehnstundentag; Überstunden werden regelmäßig verlangt, aber nicht bezahlt. Folge: Die Zukunftsinvestition in die Ausbildung der Kinder geht verloren; von diesen Menschen wird kein Euro Steuergeld nach Griechenland zurückfließen.

Wo ist das gepumpte Geld?

• Der Massenabbau an staatlichen Bediensteten wird gezielt unsozial vorgenommen. Vornehmliche werden Leute freigesetzt, die nur noch wenige Monate bis Jahre zur Regelpension haben und mit 60 Prozent der Regelpension als Frühpensionisten abgespeist werden.

Die Frage brennt: Wo ist das gepumpte Geld in den vergangenen Jahrzehnten geblieben? Jedenfalls nicht bei der breiten Bevölkerung. Vielleicht ist es bei den oberen zehn Prozent der Politikerkaste (besser Politikermafia) im Korruptionssumpf versickert. Zahlen sollen aber wieder einmal die restlichen 90Prozent.

Das griechische Volk ist nicht sparunwillig – es kann schlicht nicht mehr. Die, die Arbeit haben, arbeiten sich zu Tode (unbezahlte Überstunden, Zweit-, Dritt- und Viertjobs) zu Hungerlöhnen.

Alle Errungenschaften der letzten Jahrzehnte bezüglich des Arbeitnehmerschutzes wurden pulverisiert. Der Ausbeutung ist damit Tür und Tor geöffnet; die Ausbeutung seitens der kleinen Firmen oft schon eine Überlebensnotwendigkeit. Wenn dann durchsickert, dass die EU-Troika mit den griechischen Politikern Abendessen um 300 Euro pro Kopf genießt, stellt sich nur noch die Frage, wann der Kelomat unkontrolliert explodiert.

Die Mitschuld der Bevölkerung

Bleibt die Frage: Hat die breite Bevölkerung ein (Mit-)Verschulden? Zweifelsfrei, sie ist wie die Bevölkerung anderer Staaten auf wirtschaftlich wahnwitzige Versprechen politischer Rattenfänger vor jeweiligen Wahlen hereingefallen. Jede Partei hat mit der Aussicht auf Posten im Staatsdienst um Stimmen geworben.

Was in und mit Griechenland geschieht, sollte allen in Europa, auch in Österreich, eine todernste Warnung sein. Eine Partei, die vernünftiges Sparen zu ihrem Wahlprogramm gemacht hätte, wäre nie in die Verlegenheit gekommen, dieses umzusetzen; sie wäre nicht gewählt worden. Notwendig wäre, den Schuldenabbau anzugehen, solange er noch einigermaßen erträglich und nicht mit finanziellem Völkermord verbunden ist.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Dr. Günter Tews(*27.2. 1956 in Linz), studierte Rechtswissenschaften. Arbeitet als Familienrechtsexperte und IT-Leiter in der Anwaltssocietät SDSP in Linz und Wien. Er ist mit der Österreicherin Sabine Tews verheiratet, die seit 25Jahren in Athen lebt. Autor des Buches „Unterhalt korrekt rechnen, nicht schlecht schätzen“. [PRIVAT]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2011)

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