Im Kreislauf des Unterschichten-Daseins: Herkunft macht Zukunft

Die zuständigen Ministerien hoffen offenbar, dass sich Kinder aus bildungsfernen Schichten Deutsch gegenseitig beibringen.

Schon seit fünf Jahrzehnten muss sich die Mehrheitsgesellschaft in Österreich die Frage gefallen lassen: Warum hat sie nicht verhindert, dass Kinder aus bildungsfernen Familien – viele davon mit Migrationshintergrund – in denselben Kreislauf aus geringer Bildung und Arbeitslosigkeit geraten wie ihre Eltern?

Jetzt werden die Fehler der Vergangenheit exakt wiederholt: Die Bundesmittel für die sprachliche Frühförderung werden aus der vergangene Woche im Ministerrat beschlossenen Bund-Länder-Vereinbarung zum Ausbau der Kinderbetreuung gestrichen. Hofft da jemand, dass sich die Kinder Deutsch gegenseitig beibringen?

Wirtschafts- und Familienministerium werfen sich gegenseitig die Schuld an der Streichung vor. Es ist aber völlig unerheblich, wer sie veranlasst hat. Angesichts der Dimension des gesellschaftspolitischen Problems – wie kommt Österreich zu kompetenten und produktiven Erwerbstätigen? – spielt das Parteiengezänk keine Rolle.

Es kann wohl nicht sein, dass ausgerechnet die wertvolle Zeit zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr, in der Fördermaßnahmen am schnellsten und effektivsten greifen, vergeudet wird. Durch die Frühförderung erhalten Kinder mit mangelhaften Deutschkenntnissen ihre erste Chance. Viele von ihnen bräuchten nur diese eine.

Am falschen Platz gespart

Im Kindergarten wird an den sprachlichen Schwächen noch im ungezwungenen Rahmen gearbeitet. Dieses beiläufige Lernen funktioniert am besten. Das Zeitfenster für den Spracherwerb darf deshalb nicht durch Sparmaßnahmen verschlossen werden. Ohnehin wird hier am falschen Platz gespart.

Für Leute, die nur die neoliberale Schule studiert haben: Sparen an der falschen Stelle führt zu noch höheren Ausgaben zu einem späteren Zeitpunkt. Kinder, die die notwendige Frühförderung nicht erhalten, kommen mit einem großen Sprachdefizit in die Schule und bringen somit gleich einen riesigen Startnachteil mit. Dieses Defizit ist nur mit sehr viel Aufwand (= Kosten!) zu verringern. Vorausgesetzt, an der Schule sind die notwendigen Ressourcen vorhanden. Vorausgesetzt, das Elternhaus ist sehr engagiert. Beides ist oft nicht der Fall.

Was sich das Land leisten kann

In Österreich bestimmt die Herkunft noch immer stark die Zukunft. Gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit und Bildungsniveau der Eltern behindern den sozialen Aufstieg ihrer Nachkommen. In der Folge rutschen diese Kinder von einem Schuljahr ins nächste, um schließlich mit unzulänglichen Kenntnissen und Bildungsabschlüssen beim AMS zu landen, wo sie wiederum nur schwer oder gar nicht zu vermitteln sind. Die Investition in die Frühförderung ist deshalb auch volkswirtschaftlich betrachtet die billigere Variante.

Das gesellschaftspolitische und volkswirtschaftliche Problem, von dem hier die Rede ist, betrifft im Übrigen keineswegs nur Kinder aus Zuwandererfamilien. Jeder fünfte Pflichtschulabgänger kann heute nicht sinnerfassend lesen.

Das bedeutet: Diese Kids können zwar lesen, verstehen aber nicht, was sie gelesen haben. Knapp die Hälfte dieser Jugendlichen verfügt über die österreichische Staatsbürgerschaft. Und dieses Österreich kann sich aus Sicht der Gesellschaft eines ganz gewiss nicht leisten: Dass künftige Generationen bald zu einem Viertel aus funktionalen Analphabeten oder Menschen ohne Sekundarschulbildung bestehen. Was sich das Land dagegen leisten kann, sind die fünf Millionen Euro für die sprachliche Frühförderung.

Fredy Mayer ist Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes (ÖRK). Das ÖRK betreibt in Lernhäusern gezielte Nachmittagsbetreuung für Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2011)

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