Ungarn braucht eine neue, von der Gesellschaft bejahte Wende

Das Land und seine Bevölkerung haben sich selbst in die Sackgasse manövriert. Die Probleme kommen erst nach Orbáns Abgang.

Wieder scheint Ungarn eine Revolution und einen Unabhängigkeitskampf zu verlieren. Wieder scheint der revolutionäre Elan der Gesellschaft nur mithilfe einer übermächtigen Intervention von außen in die Knie gezwungen werden zu können. Und wieder werden bald Verschwörungstheorien das Land überschwemmen.

Allein, die von Viktor Orbán erfundene „Revolution in den Wahlkabinen“ vom Frühling 2010 mit anschließendem „wirtschaftlichem Unabhängigkeitskampf“ hatte natürlich nie etwas mit 1848 oder 1956 zu tun. Gewaltenteilung oder soziale Rechte höhlte seine Regierung mit der Reglementierung der Justiz und einem liberalisierten Arbeitsrecht aus, die Pressefreiheit mit einem fragwürdigen Mediengesetz, das Wahlrecht mit erhöhten Zugangshürden und einer – Orbáns Fidesz begünstigenden – Neuaufteilung der Wahlsprengel. Und mobilisieren – wie Kossuth 1848 oder Nagy 1956 – konnte Orbán das Land nie wirklich: Seinen fulminanten Sieg fuhr er nicht mit einem Programm, sondern dank arroganter und korrupter Gegner ein.

Gleichzeitig nannte Orbán aber, was seit der Wende schiefgelaufen war, beim Namen: das – nicht unbegründete – Gefühl vieler Ungarn, über den Tisch gezogen worden zu sein, die demokratische Maskerade der alt-neuen Elite, die eklatante soziale Ungleichheit, das unterschiedliche Maß, das die Republik, vor allem bei der Strafverfolgung, an ihre Bürger anlegte – und dass IWF-Rosskuren nicht das Gelbe vom Ei sind.

Orbán verstärkt nur, was da war

Sicher, Orbáns großspurig proklamierte „Revolution“ ist kein demokratisches Projekt, trotz hemdsärmeliger Volksnähe und inszenierter sozialer Sensibilität. Nie ging es ihm um Austausch von Ideen, Konsens oder gar lokale und zivile Autonomien. Er verstärkte nur, was bereits da war: Auch vor ihm gab es keinen Dialog der politischen Lager, blieben Sachfragen in Verkehrs-, Bildungs-, Sozial- oder Roma-Integrationspolitik ungestellt. Ungarische Innenpolitik war nur ein Geplänkel kleinkarierter Patriarchen, Scharmützel mental vergreister Gockel.

Zum Teil verbiss sich das Land in diese Kleinkriege, trug sie in die Familien oder wandte sich einfach angewidert ab. Allein, mit Demokratie, die dem Land 1989 in den Schoß gefallen war, hatten die wenigsten etwas am Hut. Die Mehrheit glaubte bestenfalls an die Verheißungen von Konsum und Sozialstaat, an die Aussicht auf Wohlstand. Mit hehren Begriffen wie Partizipation, Solidarität, Engagement, Selbstverantwortung konnte sie wenig anfangen.

Politik sollten „die da oben“ machen, man selbst wünschte in Ruhe gelassen zu werden. Und letztlich wurde man mit seinen Vorurteilen auch bestätigt: Die alt-neue politische Kaste, die von Westkonzernen übernommenen Medien, die das Land in ihren Beutegriff nehmenden Banken und Multis oder die EU mit ihrer Öffnung so verwundbarer Märkte vergällten die postkommunistischen Freiheiten. Eine demokratische Katharsis wurde dem Land nie zuteil.

So setzten die Magyaren auf einen Messias, der Ungarn über Nacht und ohne eigene Anstrengung in ein „normales“ Land (oder zumindest Österreich) verwandeln sollte. Als Wahl nach Wahl der jeweilige Heiland diese Erwartung nicht erfüllen konnte, wurde er halsstarrig durch einen neuen ersetzt. Seit Kurzem ist auch der letzte Erlöser, den man mit einer Zweidrittelmehrheit ausstattete, offensichtlich reif für ein Ablaufdatum.

Dem Wahlvolk dämmert langsam, dass es das Land nicht nur erzreaktionären Dilettanten, sondern auch zündelnden Lausbuben überlassen hat. Als wäre die Republik die Wurzel allen Übels, machten sie dieser auch ungefragt per Verfassung den Garaus und sind jetzt drauf und dran, das Land, und damit auch die Existenz von Millionen, in den Bankrott zu treiben: Hätte Orbáns Vorgänger diese Bilanz vorgelegt, Ungarns Rechte hätte sicher Zeter und Mordio geschrien. Und dass im rechten Lager gerade jetzt niemand die Stimme erhebt, spricht Bände über den Zustand des ungarischen Konservativismus.

Totalschaden bahnt sich an

Aber warum Orbán noch immer die Meinungsumfragen anführt, kann wohl nicht allein die Schwäche der diskreditierten sozialistischen und diffusen grün-alternativen Opposition erklären. Dazu gehört auch, dass sich fast alle Ungarn von der Politik abgewandt, sie jeglichen Glauben an die Zukunft, die Bereitschaft aufgegeben haben, gemeinschaftlich zu denken und zu handeln.

Auf Chancen reagieren sie negativ, Herausforderungen werden gar nicht mehr als solche erkannt, Eigenverantwortung ist unbekannt. Misstrauen, Selbstmitleid und ungesunde Skepsis beherrschen das Land: Nur Sündenböcke sind schnell gefunden.

Angesichts des sich anbahnenden Totalschadens scheint diese Einstellung zu bröckeln. Und schon ob des gemäßigten Opponierens einer überschaubaren Bürgerschaft oder sporadischer, friedlicher Budapester Großdemonstrationen, zeigt sich die Fidesz – jahrelang nur mit Claqueuren konfrontiert – irritiert.

Orbánscher Revolutionsschutt

Allein, die Mehrheitsgesellschaft, ökonomisch am Abgrund, erreichen diese Lebenszeichen der ungarischen Demokratie noch nicht: Desillusioniert und -orientiert bleibt sie abseits, glaubt nicht mehr an einen Ausweg. Um sich als Alternative positionieren zu können, bräuchte die außerparlamentarische Zivilgesellschaft vorerst Zeit (auch, um nicht von den Exkommunisten gekapert zu werden). Zeit, die sie wahrscheinlich weder von der EU noch von Finanzkreisen und -krisen erhalten wird. Muss Orbán aber nur auf äußeren Druck zurückweichen, sind Verschwörungstheorien sicher schnell zur Hand: Darin hat Ungarn jahrhundertelange Erfahrung.

Allein, die wirklichen Probleme kommen wohl erst nach dem Abgang Orbáns: Es wird einen sehr breiten Konsens, auch mit den Konservativen, brauchen, um den Orbánschen Revolutionsschutt so wegräumen zu können, dass damit auch sein (und Horthys, Kádárs) Vermächtnis, die obrigkeitsstaatliche politische Kultur, zumindest isoliert werden kann. Einen solchen Konsens hat das Land immer nur selten und kurz geschafft.

Wo ist glaubwürdige Alternative?

Verheerend wäre, wenn den ungarischen Demokraten nach Orbán nur eine postkommunistische Formation, die einen erklecklichen Anteil an der Krise hat, als starke und halbwegs akzeptable Alternative zur Verfügung stünde. Die Mentalität des Landes würde dies nicht ändern, nur mit anderen Vorzeichen versehen.

Es genügt wohl nicht mehr, die Republik einfach wieder zu proklamieren: Die Vierte muss zur Res publica aller Bewohnerinnen und Bewohner des Landes werden. Ungarn braucht eine neue, von der Gesellschaft mitgetragene Wende.

Allein, diejenigen, die dies glaubwürdig vermitteln, das Programm eines weltoffenen, liberalen Ungarns auch umsetzen könnten, dabei keinerlei Mitverantwortung an der Misere des Landes tragen, sind vorerst nicht zu sehen.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2012)

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