Wie in Frankreich die armenische Tragödie missbraucht wird

Beim jüngst vom Pariser Senat beschlossenen Leugnungsverbot geht es vor allem um die weltpolitischen Interessen Frankreichs.

Was der Pariser Senat in der vergangenen Woche beschlossen hat, ist keine späte Verneigung vor den Opfern der armenischen Tragödie, sondern ihr Missbrauch für eigene, imperiale Zwecke.

Im Leugnungsverbot des Völkermordes an den Armeniern kumulieren seit 20 Jahren beschlossene Erinnerungsgesetze und ein EU-Rahmenbeschluss über die Bestrafung von Völkermordleugnung zu einer Gesinnungsjustiz, die historische Wahrheit festschreibt und als staatliches Instrument benützt. Bedient werden können damit innenpolitische Forderungen genauso wie geopolitische Interessen.

Meinungs- und Erinnerungsparagrafen haben in Frankreich eine lange Tradition. Bereits 1990 beschloss die Assemblée nationale die „Loi Gayssot“, mit der die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar wurde. Im Gegenzug zu diesem vermeintlich fortschrittlichen Gesetz fand 2005 unter einer rechten Mehrheit die „Loi Mékachéra“ eine Mehrheit, die die Diffamierung der kolonialen Schmutzarbeiter im Algerien-Krieg, der sogenannten Harkis, verbietet. 2008 hielt dann die Gesinnungsjustiz in die EU Einzug.

In einem Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit stellt diese unter Punkt 1c das „öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ generell unter Strafe. Dieser Rahmenbeschluss ist nun von Paris in ein nationales Gesetz gegossen worden.

Geopolitische Ränkespiele

Die armenische Tragödie von 1915 dient dabei als Joker im geopolitischen Ränkespiel. Sie tat dies bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als Frankreich (und Großbritannien) nur so lange die „Völkermord-Karte“ gegen die junge Türkei im Spiel hielt, bis Kemal Atatürk als Alliierter gegen die sich konstituierende Sowjetunion gebraucht wurde. Im Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 war dann von den Armeniern keine Rede mehr. Heute müssen sogar die Nachfahren der Opfer der jungtürkischen Politik französischen Interessen dienen. Denn die Pariser Beschlussfassung über das Leugnungsverbot hat nur vordergründig etwas mit der starken armenischen Diaspora zu tun, die genauso Druck auf die Einführung des Gesetzes ausgeübt hat wie die starke türkische Gastarbeiterszene in Deutschland das Gegenteil erwirkt.

Es geht um Diskurshegemonie

Auch die anti-türkische Schlagseite des französischen Gesetzeswerkes, die Ankara politisch und diplomatisch empört, ist nur ein Nebeneffekt des eigentlichen Zwecks. Dieser hat weniger mit der Aufarbeitung der Vergangenheit zu tun, sondern ist vielmehr in die Zukunft gerichtet.

Leugnungsverbote zielen auf die Definitionsmacht von Ereignissen. Sie sind juristischer Ausdruck einer Diskurshegemonie, die Länder wie Frankreich zur möglichst widerspruchslosen Rückkehr auf die (neo)koloniale Bühne nutzen.

Am Beispiel Libyen wird der eigentliche Sinn staatlich verordneter Wahrheiten deutlich. Dort wurde – wie in Kriegen üblich – die Intervention des Westens mit einer Lüge begonnen. Der Schutz der Zivilbevölkerung vor Gaddafis Schergen diente nur als Vorwand, um die dahinterliegenden Interessen zu verdecken: politischer Machtwechsel und ökonomische Neuordnung, an der französische Firmen gut verdienen.

Die westliche Erzählung über Ursachen und Ablauf des Krieges wird dann per Richterspruch zur einzig gültigen Wahrheit.

Hannes Hofbauer ist Historiker und Verleger. Vor Kurzem erschien von ihm „Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument“ (Promedia Verlag, Wien).


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2012)

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