Strache und die Mördergrube des Herzens

Wie das „Mitgefühl“ in der NS-Zeit ausgetrieben und pervertiert werden sollte – mit Folgen, die wir heute noch spüren.

In der „Zeit im Bild“ konnte man sehen, dass Heinz-Christian Strache genau weiß, worum es bei seinem „Neue Juden“-Sager geht: „Ich wollte mein Mitgefühl ausdrücken!“ – mit „den Juden“ und mit sich selbst. Warum das so verquere Formen annimmt? Dazu möchte ich weiter ausholen – zum Thema „Bedürftigkeit“.

„Das nicht“, denkt sich Nelly, der fiktive Kind-Charakter, als den sich die Schriftstellerin Christa Wolf imaginiert, begeistert und beklommen zugleich – eingeklemmt zwischen der Warnung der Mutter, „sich nicht wegzuwerfen“, und der Weisung zur unbedingten Hingabe an den Führer. Das nicht: Sich als Mädchen absichtlich mit der Pest zu infizieren, um dann in das Lager der Feindes zu schleichen und, indem sie sich „hingibt“, ihm die Seuche zu bringen.

Eine ganze Kinder- und Jugendlichen-Generation war betroffen: Wolf beschreibt in „Kindheitsmuster“ anhand der Mädchenfigur Nelly sehr genau, wie die Verbindungen zwischen den Ideologien der Nationalsozialisten und den Empfindungen der Menschen geknüpft wurden. „Ein deutsches Mädel muss hassen können, hat Herr Warsinski gesagt“, schreibt Wolf, und es sind auch noch andere starke Gefühle zur gesellschaftlichen Integration vonnöten. „Jesus Christus, sagt Herr Warsinski, wäre heute ein Gefolgsmann des Führers und würde die Juden hassen.“ „Hassen?“, sagt Charlotte Jordan, Nellys Mutter, später dazu. „War wohl nicht gerade seine Stärke.“

Blinder Hass

Einmal beobachtet Nelly alte Männer mit Bärten, die am Synagogenplatz in armseligen Häuschen wohnen. „Um ein Haar wäre Nelly eine unpassende Empfindung unterlaufen: Mitgefühl. Aber der gesunde deutsche Menschenverstand baut seine Barriere dagegen, als Angst.“ Wer als Kind angelernt wird, Mitgefühl mit Schwachen und Unterlegenen in Hass und in Angst umzumünzen, hat später erhebliche Schwierigkeiten, Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln. Geschweige denn mit Roma, Obdachlosen, Arbeitslosen oder tschetschenischen „Wirtschaftsflüchtlingen“, die einem Mörder ausgeliefert werden sollten...

In der Schule hört Nelly: „Der Führer muss sich blind auf euch verlassen können.“ Blind? „Blinder Hass, ja das ginge, denkt sich Nelly. Sehender Hass ist einfach zu schwierig.“ Das kommt also aus dem Nationalsozialismus, dass einer ganzen Generation versucht wurde das Mitgefühl auszutreiben. Emotionaler Ersatz: Angst.

Hätte Strache am Internationalen Holocaust-Gedenktag gesagt, „ich habe Angst, dass es Brandbomben auf unsere Buden gibt“, hätte das ganz anders geklungen. Doch hier gibt es wohl noch weitere heftige Barrieren, wie eventuell unbewusste Angst vor möglicher Rache, deren Sinn unwillkürlich eingesehen wird – nach allem, was jüdischen Menschen angetan wurde.

Frei nach Christa Wolfs Verschriftlichung einer „frei flottierenden“ Angst, die immer wieder verdreht hochkommt und aktuell festgemacht wird: „Vor den Juden muss man Angst haben, wenn man sie schon nicht hassen kann. Wenn die Juden jetzt stark wären, müssten sie uns alle umbringen.“

Andreas Mölzer gestand Strache einen „emotionalen Ausnahmezustand“ zu, in der Fernsehdiskussion meinte Mölzer aber selbst zweimal, das sei „Wiederbetätigung“, was die anderen Teilnehmer und die Moderatorin hier machten und befand erfreut, „auf diese Weise treiben Sie die Wähler zur Wahlurne für uns“. „Das Gebot ist, sich verlassen, in des Wortes Doppelsinn“, schreibt Wolf. Und: „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“


Kerstin Kellermann ist freie Journalistin, u.a. schreibt sie für die Obdachlosenzeitung „Augustin“.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2012)

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