Die Sucht der Professoren nach dem kleinen Gewinn

Die Universitäten spiegeln unsere bürgerliche Gesellschaft wider. Das war in den 1940er-Jahren nicht anders als heute.

Die USA, also das Gelobte Land der Demokratie und der Spitzenwissenschaft, haben wenige Monate nach dem Nürnberger Ärzteprozess in Guatemala in großem Umfang Soldaten, Gefängnisinsassen und psychisch Kranke mit Krankheiten infiziert, um ein Medikament zu testen. In den 1940er- und noch in den 1950er-Jahren war es in der Medizin der freien Welt eine offenkundig anerkannte Methode, durch die Erzeugung einer Krankheit eine andere Krankheit zu vertreiben. Zum Beispiel sollte durch künstlich provozierte Malaria Paralyse gemildert werden oder durch künstlich erzeugte Gelbsucht der Gelenksrheumatismus.

Nicht die gelbe Farbe war dabei entscheidend, sondern der Gedanke an einen damals noch unbekannten Wirkstoff, der durch diese Krankheit im Körper kreist.

So erklärte das im Dezember 1954 der 1938 von den Nazis entlassene und 1946 wieder eingestellte Vorstand der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Innsbruck, Hubert Urban (1904–1997), Sohn eines Chirurgen, Absolvent der Wiener Medizinischen Schule und, in Wien, Assistent des Neurologen Otto Pötzl, im Zuge einer Vernehmung aus Anlass eines Todesfalles vor dem Landesgericht Innsbruck.

Kalbsdrüse gegen leichten Kropf

Er fügte hinzu: „Dieser Stoff entsteht in der Leber wie der Farbstoff und beeinflusst eben die Abwehr der Krankheit positiv. Diese Gedankengänge brachten mich auf den Gedanken, auf operativem Wege Gelbsucht zu erzeugen. Diese Methode ist bisher noch nicht verwendet und erprobt worden. In England und Amerika wurde die künstliche Gelbsucht auf nicht operativem Wege erzeugt. Diese Methode war jedoch so unsicher, insbesondere was den Zeitraum des Erscheinens der Gelbsucht anbetrifft, dass mir die operative Methode wesentlich sicherer und steuerbarer erschien.“

1946 war eine von Urban veranlasste Implantation einer inneren Kalbsdrüse bei einer Frau mit „leichten Kropf“ danebengegangen. Mit der Implantation hoffte Klinikchef Urban, „die Schwächezustände der Patientin und die schweren Depressionen, die die Patientin aufgrund ihres Krankheitszustandes hatte, beseitigen zu können“. Zur Durchführung dieser Implantation ist Urban aufgrund nicht näher bezeichneter ausländischer Literatur gekommen.

An der Front der Wissenschaft

Und wie wurde die innere Kalbsdrüse besorgt? Ein junger Arzt war vom Klinikchef beauftragt worden, im Innsbrucker Schlachthof selbst diese dem Kalb herauszunehmen und dann in einem geschlossenen Gefäß mit 96 Prozent Alkohol in die Klinik zu bringen. Beide Patienten gehörten natürlich nicht dem Innsbrucker Universitäts- oder Hofratsmilieu an. Professor Urban war an der Front der Wissenschaft, er wollte die „Durchschnittlichkeit“ überragen, jedenfalls hat er das selbst so gesehen.

Die Universitäten spiegeln unsere bürgerliche Gesellschaft wider, seien es die 1940er-Jahre oder die Gegenwart. Das Besondere der Universitäten ist bloß, dass sich an ihnen eine Unmenge von Intellektuellen herumtreibt, die ihr hoch privilegiertes Leben durch irgendwelche wissenschaftlichen Ergebnisse, die von ihren Kollegen als Spitzenergebnisse eingeschätzt werden, krönen wollen.

Auf Grundanliegen der Humanität kann mehrheitlich von Universitätsprofessoren ebenso wie von Geschäftsleuten und Politikern bei ihrer Sucht nach dem kleinen Gewinn keine Rücksicht genommen werden.

Gerhard Oberkofler (*1941),langjähriger Leiter des Universitätsarchivs Innsbruck und Univ.-Prof. für Österreichische Geschichte in Innsbruck. Verfasser zahlreicher Bücher zur österreichischen Wissenschaftsgeschichte.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2012)

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