Feindbild Israel: Wie das Gewitter in der Wolke

Der heutige Antisemitismus tarnt sich gern mit der Maske legitimer antizionistischer Israel-Kritik. Doch radikalen Antizionisten und Antisemiten geht es stets um dasselbe: den Juden das Existenzrecht abzuerkennen.

Er war voller Wut“ und „ein Psychopath“, hieß es in den ersten offiziellen Reaktionen auf den Tod des Serienmörders von Toulouse. Der Mord an drei jüdischen Kindern und einem Rabbiner vor ihrer Schule in der vergangenen Woche sollte nach Aussagen des Mörders, der sich als „Gotteskrieger“ ausgab, ein Racheakt für getötete palästinensische Kinder sein; zuvor schon hatte er drei Soldaten erschossen.

Die Staatsschützer mussten eingestehen: Gegen Einzeltäter wie Mohamed Merah sind wir machtlos. Und so richtet sich die Aufmerksamkeit einer alarmierten Öffentlichkeit einmal mehr auf die Frage: Wie effizient sind die anti-terroristischen Maßnahmen, mit denen sich nach 9/11 die westliche Welt gegen den islamistischen Terror zu schützen versucht?

„Ersatzärgernis“ Israel

Aber so wichtig Fragen nationaler Sicherheit und effizienter Terrorbekämpfung auch sind – sie sind nicht das Hauptproblem. Die eigentliche Herausforderung liegt nämlich nicht primär in der Qualität der Arbeit der Geheimdienste, sondern im mentalen Zustand europäischer Gesellschaften. Denn der weltweit gegen Juden und den jüdischen Staat agierende islamistische Terror trifft in Europa auf ein antisemitisch und antizionistisch hoch aufgeladenes Klima.

Israel gilt längst schon als „Ersatzärgernis“ für all das, was in der Welt falsch läuft. 59 Prozent der Europäer halten Israel für den Weltfriedensstörer Nummer eins – gefährlicher als Nordkorea und Iran; in Österreich sind es sogar 69 Prozent der Bevölkerung. In einer neueren Umfrage sehen zwar 70 Prozent der Deutschen eine Gefahr für Israel durch das iranische Atom(waffen)programm, aber 80 Prozent wollen, dass sich Deutschland im Konfliktfall neutral verhält. Das, obwohl die deutsche Kanzlerin Merkel die Sicherheit Israels öffentlich zur Staatsräson erklärte.

Die Verhältnisse haben sich gewandelt: Der doktrinäre, rassistische Antisemitismus der Nazi-Zeit ist durch den Holocaust heute weitgehend diskreditiert – der neue Antisemitismus tarnt sich vielfach mit der Maske legitimer antizionistischer Israel-Kritik. „Man wird doch noch Kritik an Israel über dürfen“ heißt es dann, meint aber damit etwas ganz anderes.

Denn hinter der vermeintlichen Israel-Kritik verbirgt sich nicht selten eine „Dämonologie“ des jüdischen Staates. Deutlich wird das etwa dann, wenn diese „Kritik“ nicht vor NS-Vergleichen zurückschreckt: Rund die Hälfte der Deutschen stimmt dem Vergleich der Politik Israels mit jener des NS-Regimes zu. In Österreich sind 42 Prozent der Meinung, dass sich „die Israelis den Palästinensern gegenüber genauso unmenschlich verhalten wie damals die Nazis gegenüber den Juden.“

Schuldprojektion, Schuldumkehr

Dahinter steht eine kollektive psychische Entlastungsstrategie: Um die immer noch belastende schuldhafte Vergangenheit der Deutschen und Österreicher möglichst auszublenden, muss der Fokus nur scharf genug auf die vermeintliche Schuld des jüdischen Staates gerichtet werden. Dieser Mechanismus der Schuldprojektion und Schuldumkehr besteht darin, die Verbrechen des Nationalsozialismus – Rassentrennung, ethnische Säuberungen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit – nun Israel vorzuwerfen.

Perverse „Logik“

Der behauptete Rassismus Israels wird mit dem Rassismus der Nazis in Beziehung gesetzt, um damit rückwirkend das moralische Gefälle zwischen Opfern und Tätern einzuebnen: „Seht, die Opfer verhalten sich heute auch nicht anders als die Täter damals.“

Die Leserichtung solcher perversen „Logik“ geht auch in umgekehrter Richtung: Die Gegnerschaft gegen Nazismus und Rassismus schließt dann diejenige gegen Israel mit ein – denn Israel wird ja aus antizionistischer Perspektive als rassistischer Staat gesehen.

Die Mechanismen der Schuldumkehr und der Schuldprojektion dienen der kollektiven psychischen Entlastung. Sie ist heute um nichts weniger treibendes Motiv für den Antijudaismus, wie er es für die Generation der Täter, Mittäter und Mitläufer nach dem Krieg war. Denn historische Schuld, die nicht bearbeitet wird, geht als schwere Hypothek von einer Generation auf die nächste über.

Schuldprojektion dient immer dazu, sich die Auseinandersetzung mit eigener Schuld oder Mitschuld zu ersparen. Die Österreicher waren darin immer schon Meister. Heute sagen immer noch 28 Prozent, dass die Juden an ihrer Verfolgung selbst schuld seien. Dazu kommt: Der europäische Antisemitismus hat sich längst mit dem radikal-islamischen Antizionismus, der sich aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt speist, zu einer unheilvollen Melange antijüdischer Ressentiments amalgamiert. Die Botschaft ist unmissverständlich: Vom jüdischen Staat geht weltweite Bedrohung aus.

Es war der österreichische Schriftsteller Jean Améry, der die deutsche, dem Antizionismus verpflichtete Linke schon in den I970er-Jahren daran erinnerte, dass sich hinter dem Aushängeschild des Antizionismus in Wahrheit nichts anderes als der alte Antisemitismus verberge. Der Antisemitismus sei im Antizionismus, so Améry, „wie das Gewitter in der Wolke“ enthalten. Nur weil er sich als Antizionismus tarne, sei aber der Antisemitismus keineswegs „ehrbarer“, so Améry.

Die Sache des alten Judenhasses

Mag schon sein, dass Antisemitismus und Antizionismus nicht umstandslos auf einander zu beziehen sind. Aber im Schatten eines drohenden atomaren Holocaust im Nahen Osten hat die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antizionismus bestenfalls akademischen Wert. Sie hat, wie der israelische Historiker und Antisemitismusexperte R. Wistrich meint, ihren Sinn verloren.

Wistrich spricht deutlich an, was heute vielfach verschleiert wird: „Welche theoretischen Verrenkungen man auch anstellen mag, der Staat Israel ist ein jüdischer Staat. Wer diesen diffamieren oder zerstören will, offen oder durch eine Politik, die zu seiner Vernichtung führen muss, betreibt in der Praxis die Sache des alten Judenhasses, worin immer die proklamierten Absichten auch bestehen mögen.“

Wenn extremistische Gruppen, seien sie radikal-islamischer, rechtsradikaler oder linksradikaler Herkunft, Anschläge gegen Juden oder jüdische Einrichtungen mit der aktuellen israelischen Politik zu legitimieren versuchen, dann macht dieser radikale Antizionismus nichts anderes, als der extreme Antisemitismus immer schon getan hat: den Juden das Existenzrecht und das Recht auf Selbstbestimmung abzuerkennen.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comMaximilian Gottschlich ist Professor am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Mit der in diesem Kommentar angesprochenen Thematik beschäftigt sich neben zahlreichen anderen Problemen des modernen Antisemitismus auch sein neues Buch: „Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? Kritische Befunde zu einer sozialen Krankheit“ (Czernin 2012). [Mirjam Reither]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2012)

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