Europa und die Regierungsbildung

Die realen Gestaltungsmöglichkeiten der Bundesregierung liegen zum größeren Teil nicht in Österreich.

G
ut 70 Prozent des österreichischen Rechts sind direkt oder indirekt vom EU-Recht beeinflusst. Daran hat Josef Azizi, von Österreich entsandter Richter am Europäischen Gerichtshof, kürzlich erinnert, wobei diese Schätzung aus der Zeit des EU-Beitritts stammt und die Prozentzahl inzwischen wohl höher geworden ist.

Unsere EU-Mitgliedschaft hat daher eine besondere Bedeutung bei den Regierungsverhandlungen: Die realen Gestaltungsmöglichkeiten der Bundesregierung liegen zum größeren Teil nicht in Österreich. Eine Regierung, die etwas weiterbringen will, muss vor allem in Brüssel stark sein.

Das weiß niemand besser als die, die im Rat der EU Richtlinien, und die, die im Nationalrat die Ausführungsgesetze dazu beschließen, nämlich die Mitglieder der Bundesregierung und die Abgeordneten zum Nationalrat selbst. Merkwürdig, dass im Wahlkampf so wenig die Rede davon war, wie unsere PolitikerInnen ihre europäischen Möglichkeiten zu nutzen gedenken.

Die Gründe dafür sind auf zwei Ebenen zu suchen: Die Nachfrage nach politischen Angeboten ist nicht rational. Wer erzählen möchte, wie er versuchen wird, politische Konzepte in Europa durchzusetzen, wird auf wenig Interesse stoßen. Er kann auch nicht versprechen: Für den Fall meiner Wahl werde ich diese Lösung umsetzen, sondern muss eingestehen, dass er sich nur bemühen kann, die erforderliche Zustimmung anderer EU-Staaten zu erreichen. Damit wird man kein Held und auch nicht gewählt.

Der zweite Grund hängt mit dem ersten zusammen: Weil Politik in der EU kompliziert und schwer darstellbar ist, werden wir nicht damit konfrontiert und werden wir auch nicht daran gewöhnt, uns in den verschiedenen Politikbereichen - von der Wirtschafts- bis zur Umwelt- und Bildungspolitik - mit den besonderen Perspektiven europäischer Lösungen auseinander zu setzen und uns mit den Eigenheiten europäischer Entscheidungsabläufe vertraut zu machen.

Ein Ansatz, um aus diesem Dilemma herauszukommen, liegt in verstärkter Partizipation. Nach den verlorenen Referenden um die Verfassung setzen die EU-Institutionen stark auf dieses Stichwort. Wer etwa die Internetseiten der Kommission besucht, wird geradezu erschlagen davon. Informationen, Konsultationen, Wegweiser für BürgerInnen, Diskussionsangebote, etc. Ironisch könnte man sagen: Partizipation, wohin das Auge blickt.

EU-Partizipation kann, soll und muss aber möglichst bürgernah angeboten werden, und das heißt: bei der Festlegung der Verhandlungsposition des österreichischen Ministers im EU-Rat. Unsere Verfassung beteiligt insbesondere den Nationalrat in vorbildlicher Weise an "europäischen Vorhaben" und das Stellungnahmerecht der Sozialpartner ist gesetzlich abgesichert.

Eine weitergehende Beteiligung liegt im Ermessen des zuständigen Regierungsmitglieds. Dabei gibt es einige durchaus lobenswerte Ansätze, wie etwa die regelmäßigen Gesprächsrunden mit NGO-VertreterInnen, die das Umweltministerium rund um die Sitzungen des EU-Umweltrates zu den aktuellen EU-Umwelt-Themen durchführt.

Diese Ansätze bedürfen einer systematischen Weiterentwicklung. Ein guter Platz dafür wäre das nächste Regierungsprogramm. Darin sollten folgenden Sätze zu lesen sein: "Die österreichische Bundesregierung bekennt sich zu einer möglichst weitgehenden Beteiligung der BürgerInnen an der Politik Österreichs in den Institutionen der EU. Zu diesem Zweck werden die Mitglieder der Bundesregierung vor Festlegung ihrer Position zu EU-Rechtsakten alle thematisch betroffenen Nicht-Regierungsorganisationen zu Stellungnahmen und Koordinationssitzungen einladen und öffentliche Konsultationen durchführen, die allen interessierten BürgerInnen offen stehen."

Dr. Karl Staudinger ist Politiktrainer und betreibt die Website www.mitgestalten.eu.

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