Unheimliches Brodeln in den großen Städten der Welt

Drei Viertel der Menschheit könnten 2050 in Städten leben. Über Dramen, Siege und Niederlagen im urbanen Raum.

Der Aufstand auf dem Tahrir-Platz in Kairo, die Anti-Putin-Demonstrationen in Moskau, „Occupy Wall Street“ in New York und anderen amerikanischen Städten, die „Empörten“ (Indignados) in spanischen Städten, schließlich die diesjährigen Proteste in Brasilien und die Gezi-Park-Bewegung in der Türkei – es tut sich etwas in großen Städten. Antriebsfeder dieser neueren Aufstandsbewegungen ist wohl das Bedürfnis politisch mündiger Bürger nach demokratischer Mitsprache. Aber sonst sind die Ursachen für die öffentlichen Aufschreie an verschiedenen Punkten des Globus doch ziemlich unterschiedlich. Doch, da ist noch eine Gemeinsamkeit: Es ist v.a. die städtische Mittelschicht, die sich da politisch regt.

Aber erlaubt dieses globale Geschehen tatsächlich, von einer „Zeitenwende“ zu sprechen, wie das die türkischstämmige Soziologin Nilüfer Göle in der jüngsten Ausgabe der europäischen Revue „Transit“ (Nr. 44) tut? „Diese großstädtische Bewegung, initiiert von jungen Menschen, unterstützt von der Mittelschicht und geprägt durch die aktive Teilnahme vieler Frauen, setzte neue Maßstäbe für die türkische Demokratie und markierte eine Zeitenwende: Es gibt eine Türkei ,vor‘ und eine ,nach‘ der Gezi-Park-Bewegung.“ Na ja, ob die gute Frau Göle das alles nicht ein bisschen zu verklärt aus ihrer Pariser Perspektive heraus sieht?

Allzu viel hört man derzeit nämlich nicht mehr von der Gezi-Park-Bewegung. Möglicherweise haben die brutalen Prügel- und Tränengasorgien der berüchtigten türkischen Polizei doch einigen Eindruck bei den Demonstranten hinterlassen. Premier Recep Tayyip Erdoğan jedenfalls fuhrwerkt munter weiter wie bisher, beschimpft seine Kritiker rüde, jagt ihnen die Justiz auf den Hals und spielt sich als Obermoralprophet auf. Ihn selbst hat das zweiwöchige Aufbegehren der urbanen Mittelschichtler im Frühjahr sichtlich nicht im Geringsten beeindruckt. Wie ja auch die Proteste gegen die Putin'sche Autokratie in Russland ziemlich dürftig und zahm geworden sind, wie man ja auch von „Occupy Wall Street“ und den spanischen „Empörten“ nicht mehr viel hört.

Hingegen könnte es im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 in Brasilien noch zu weiteren und heftigen Massenprotesten kommen. Schließlich ist es dort nicht nur die Mittelschicht, die gegen politische Bevormundung, ausufernde Korruption und staatliche Willkür auf die Straße geht, dort marschieren auch Angehörigen der Unterschichten mit: eine potenziell viel gefährlichere Mischung für das Establishment.

Das Establishment in Istanbul aber hat die Dinge offenbar wieder fest im Griff. Dominiert wird es von der Baulobby, wie Yaser Adnan Adanali in seinem Beitrag „Wem gehört Istanbul?“ für das Städtespezialheft der „Edition Le Monde diplomatique“ (Nr.14) schreibt. Ihre rücksichtslosen Stadterneuerungsprojekte waren schließlich der Auslöser für die Gezi-Park-Proteste. Eine treibende Kraft hinter diesen Projekten ist der Mischkonzern Çalik Holding – und an der Spitze dieses Konzerns steht Berat Albayrak, Erdogans Schwiegersohn!

Wer sich für das Phänomen Urbanisierung und damit verbundene Chancen und Probleme interessiert, dem sei das „Le Monde diplomatique“-Heft sehr empfohlen. Immerhin, bis 2050 könnten drei Viertel der Weltbevölkerung in Städten leben, die Zukunft findet ganz wesentlich in urbanen Räumen statt. Von Lima bis Wladiwostok, von Oslo bis Johannesburg spüren 30 Beiträge in diesem Heft gegenwärtigen und künftigen Entwicklungen in Großstädten der Welt nach.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2013)

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