Und nun kommt das Zeitalter der Staaten-Zersplitterung

Löst das schottische Referendum eine Kettenreaktion aus? Im Nahen Osten ist der Auflösungsprozess schon im Gang.

Am Donnerstag stimmen die Schotten darüber ab, ob sie sich von Großbritannien abspalten und unabhängig werden sollen. Lösen sie damit eine Kettenreaktion in Europa aus? Denn sagen die Schotten mehrheitlich Ja, verabschiedet sich in der Folge vielleicht auch Nordirland aus dem Vereinigten Königreich, Irland wird wieder ein Einheitsstaat, und vom United Kingdom bleiben nur England und Wales übrig. Am 9. November dann die Volksbefragung über die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien. Geht sie mit Ja aus, könnte als nächste Abspaltung das Baskenland folgen. Danach verabschieden sich Padanien und Südtirol aus Italien, Flandern trennt sich von Wallonien, Korsika sagt Adieu zu Frankreich. Und warum die Ostukraine nicht? Weil ihre Abspaltung gewaltsam, undemokratisch und von Russland inspiriert, forciert und finanziert ist. Nur ganz, ganz wenige Bewohner im Donbas haben vor Beginn dieses Jahres eine Abspaltung vom Rest des Landes im Kopf gehabt.

Steht uns also eine Zersplitterung der heutigen Staatenwelt bevor – und wäre sie eine Bedrohung für das internationale Gefüge? Sicher nicht, wenn sie zivilisiert abläuft wie etwa die Trennung von Tschechen und Slowaken 1993. In der jüngsten Ausgabe des Debatten-Magazins „The European“ (4/2014) diskutieren Intellektuelle über das vermeintliche Ende der Globalisierung und den Siegeszug der Nationalisten. Bestseller-Autor Parag Khanna meint da etwa: „Die Welt von morgen ist notwendigerweise komplexer und vielschichtiger; die Fragmentierung von Macht ist unausweichlich und unwiderruflich. Der Zuwachs an souveränen Nationalstaaten ist dafür das beste Beispiel. Multiethnische Staaten zerfallen und werden ersetzt durch kleinere, nationalstaatlich-souveräne Entitäten.“

Einerseits ist der Zerfall von Staaten in mehrere Teile also gleichsam ein neuer globaler Trend, andererseits gibt es explizite Versuche einer Renationalisierung, um die Globalisierung aufzuhalten. Nur, argumentiert der amerikanische Soziologe George Ritzer: „Nichts kann die Globalisierung aufhalten.“ Zwar: „Je mehr die Mobilität von Kapital, Migranten, Ideen und Umweltverschmutzung zunimmt, desto stärker wird der Widerstand gegen solche Entwicklungen, neue Barrieren werden errichtet.“ Aber: „Eine Zeit lang mag diese Strategie Erfolg haben, aber irgendwann gibt jede Barriere nach. Globale Strömungen unterspülen oder überfluten sie.“

Im Nahen Osten ist der Zerfall von Staaten längst im Gang. In der Berliner Fachzeitschrift „Internationale Politik“ (5/2014) analysiert der Nahostexperte Rainer Hermann diesen Prozess und fragt, ob sich in der arabischen Welt schon eine neue Ordnung abzuzeichnen beginne. Nicht wirklich: In Libyen ist der Staat kollabiert; in Algerien ist entscheidend, wie lange die Armee das Land ruhig halten kann. Marokko und Tunesien sind vergleichsweise stabil, auch in Ägypten gibt es zumindest eine nationale Identität. Stabil scheinen auch die Staaten der Arabischen Halbinsel („Stämme mit Flaggen“), außer Jemen. Hingegen sind die Staaten der Levante mitten in einem Auflösungsprozess (Ausnahme bisher: Jordanien).

Natürlich schafft der Staatenzerfall in der Region ein bedrohliches Vakuum. Anderseits, fragt Hermann: „Weshalb soll es nicht drei Iraks geben, wenn ein Irak nicht funktioniert? Weshalb soll es nicht sechs oder mehr Libyen geben, wenn das eine Libyen nicht zusammengehalten werden kann?“ Die Lehre der jüngsten Geschichte sei nur: „Ausländische Interventionen in der Region bringen keine funktionierenden Staaten hervor.“

Emails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.